Der Schrei Hiobs
Acat-menschenrechtler laden zum Gebet für die Opfer von Folter ein
Während den ersten Wochen des Lockdowns, im März-april dieses Jahres, haben wir eine ungewöhnliche Stille erfahren: keine Autos, kein Flugverkehr; alles schien bewegungslos, als ob die Erde aufgehört hätte sich zu drehen, die Luft war rein, die Natur atmete auf. Vor allem nachts konnte man diese äußere Stille wahrnehmen – und doch wusste man um den Unfrieden unserer Welt: Hörte man nach innen, so hallte die tiefe Stille wider von den Schreien so vieler Menschen – den Kranken, Einsamen, Getrennten, Vergewaltigten, Gequälten, Gefangenen dieser „Erde die sich dreht und dreht mit ihren großen Blutbächen“(Jacques Prévert). Wie umgehen mit den vielen Schreien? Wem gilt der Schrei, wen wird er erreichen?
Ein Buch voller Schreie
Das Buch Hiob ist voll der Schreie. Es wurde um das 2. Jahrhundert vor Christus geschrieben, mit Redeformen der Weisheit, des Rechts, der Psalmen und Hymnen. Es spricht von der beharrlichen Klage des Unschuldigen, von mannigfaltigen Schicksalsschlägen getroffen – von Trauer, Armut, Entblößung, Krankheit, Vereinsamung. Im Buch steigern sich Diskussionen und Streitgespräche und damit auch die Klage und das Gefühl immer größerer Verlassenheit. Bange Fragen wirft Hiob hin vor Gott, der sich lange in Schweigen hüllt. Die klugen Vernunftreden seiner Freunde verschärfen nur noch seine Not; Gott strafe nicht den Gerechten, so reden sie auf ihn ein. Von Trauer und Schmerz überwältigt findet er dennoch die Kraft, die Reden der Freunde zu erwidern und den Gedanken zurückzuweisen, dass sein Schicksal die direkte Folge seiner Sünden sei.
Hiob erscheint im vorliegenden Textauszug in seiner äußersten Verzweiflung: Er macht sich nichts mehr vor, gute Ratschläge erreichen ihn nicht mehr. Die Nacht ist die Nacht, und er wird in ihr ausharren. „Die Fasern meines Herzens sind zerrissen“, heißt es in einer der Übersetzungen; Herzenswünsche sind verstummt und deren Stille ruft den Tod herbei. Menschliche Beziehungen schwinden dahin, der Horizont wird eng; Hiob schaut in die Verwesung und nennt sie Vater, Mutter, Schwester! Ihm geht der Lebensatem aus, wie dem Psalmisten (Ps 143,5). Unaufhaltsam, bei den an Covid-19 Verstorbenen; gewaltsam, bei George Floyd ...
In seiner Not zerreißt Hiob nicht den dünnen Faden, der ihn noch mit Gott verbindet – wenngleich die Verbindung nur noch aus Klagen und Forderungen besteht. Und etwas weiter, noch bevor Gott endlich das Wort ergreift, knüpft er an sein Grundvertrauen an: „Doch ich weiß, mein Erlöser lebt: Als Letzter erhebt er sich über dem Staub.“(Hiob 19,25)
In seiner ausführlichen Antwort, am Ende des Buches Hiob, umreißt Gott den größeren Horizont, das Geheimnis der Schöpfung. Er greift die Rhetorik der Strafe nicht auf, lässt keinen Zweifel an Hiobs Unschuld. Andererseits liefert er keine Antworten auf die von Hiob und seinen „Freunden“diskutierten Fragen um den Ursprung des Leids, das über Hiob gekommen ist. Aus solchen Debatten kann wohl kaum Hoffnung erwachsen.
Der Hoffnung entgegenführen
Was tun angesichts des Schreis unseres Mitmenschen? Wie lässt sich dessen „Hoffnung erblicken“, wenn nicht durch die Nähe, die gereichte Hand? Genau diese Art von Hoffnung, konkret und solidarisch, ist auf dem Bild dargestellt. Das Werk des israelischen Künstlers Jehuda Bacon bedeckt eine große Wand in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Es trägt den Titel „Der Mensch, der mir meinen Glauben wiedergegeben hat“. Eine Lichtgestalt reicht der verletzten, erniedrigten Person die Hand und führt sie der Hoffnung entgegen, die vor ihnen liegt – einer lichten Welt ohne Hass und Unterdrückung.
Christen glauben, dass Jesus Christus, der „Mensch für andere“(Bonhoeffer), sich durch sein Leiden und seine Auferstehung an die Seite aller Opfer der Welt gestellt hat. Gott hat sich somit selbst dem Bösen ausgeliefert, um es durch die Liebe zu überwinden – das ist Gottes Antwort auf die Frage des Bösen.
Während den Gebetswachen der ACAT lassen wir uns von den Schicksalen der Opfer von Gewalt und Willkür berühren und bringen die Anliegen unserer Mitmenschen vor den Gott Hiobs und Jesu Christi.
* Die Autorin der Meditation ist Theologin und Mitglied der „Action des Chrétiens pour l’abolition de la Torture“(ACAT). Heute, am Internationalen Tag der Vereinten Nationen zur Unterstützung von Folteropfern, lädt die Vereinigung um 18 Uhr zu einer Veillée ein, um im Gebet aller Christen mit den Opfern von Folter weltweit verbunden zu sein. Materialien für die Gebetswachen in Text, Bild und Ton können auf der Internetseite von ACAT (www.acat.lu) heruntergeladen werden. Dort gibt es auch weitere Informationen.