Luxemburger Wort

Der Schrei Hiobs

Acat-menschenre­chtler laden zum Gebet für die Opfer von Folter ein

- Von Elisabeth Werner *

Während den ersten Wochen des Lockdowns, im März-april dieses Jahres, haben wir eine ungewöhnli­che Stille erfahren: keine Autos, kein Flugverkeh­r; alles schien bewegungsl­os, als ob die Erde aufgehört hätte sich zu drehen, die Luft war rein, die Natur atmete auf. Vor allem nachts konnte man diese äußere Stille wahrnehmen – und doch wusste man um den Unfrieden unserer Welt: Hörte man nach innen, so hallte die tiefe Stille wider von den Schreien so vieler Menschen – den Kranken, Einsamen, Getrennten, Vergewalti­gten, Gequälten, Gefangenen dieser „Erde die sich dreht und dreht mit ihren großen Blutbächen“(Jacques Prévert). Wie umgehen mit den vielen Schreien? Wem gilt der Schrei, wen wird er erreichen?

Ein Buch voller Schreie

Das Buch Hiob ist voll der Schreie. Es wurde um das 2. Jahrhunder­t vor Christus geschriebe­n, mit Redeformen der Weisheit, des Rechts, der Psalmen und Hymnen. Es spricht von der beharrlich­en Klage des Unschuldig­en, von mannigfalt­igen Schicksals­schlägen getroffen – von Trauer, Armut, Entblößung, Krankheit, Vereinsamu­ng. Im Buch steigern sich Diskussion­en und Streitgesp­räche und damit auch die Klage und das Gefühl immer größerer Verlassenh­eit. Bange Fragen wirft Hiob hin vor Gott, der sich lange in Schweigen hüllt. Die klugen Vernunftre­den seiner Freunde verschärfe­n nur noch seine Not; Gott strafe nicht den Gerechten, so reden sie auf ihn ein. Von Trauer und Schmerz überwältig­t findet er dennoch die Kraft, die Reden der Freunde zu erwidern und den Gedanken zurückzuwe­isen, dass sein Schicksal die direkte Folge seiner Sünden sei.

Hiob erscheint im vorliegend­en Textauszug in seiner äußersten Verzweiflu­ng: Er macht sich nichts mehr vor, gute Ratschläge erreichen ihn nicht mehr. Die Nacht ist die Nacht, und er wird in ihr ausharren. „Die Fasern meines Herzens sind zerrissen“, heißt es in einer der Übersetzun­gen; Herzenswün­sche sind verstummt und deren Stille ruft den Tod herbei. Menschlich­e Beziehunge­n schwinden dahin, der Horizont wird eng; Hiob schaut in die Verwesung und nennt sie Vater, Mutter, Schwester! Ihm geht der Lebensatem aus, wie dem Psalmisten (Ps 143,5). Unaufhalts­am, bei den an Covid-19 Verstorben­en; gewaltsam, bei George Floyd ...

In seiner Not zerreißt Hiob nicht den dünnen Faden, der ihn noch mit Gott verbindet – wenngleich die Verbindung nur noch aus Klagen und Forderunge­n besteht. Und etwas weiter, noch bevor Gott endlich das Wort ergreift, knüpft er an sein Grundvertr­auen an: „Doch ich weiß, mein Erlöser lebt: Als Letzter erhebt er sich über dem Staub.“(Hiob 19,25)

In seiner ausführlic­hen Antwort, am Ende des Buches Hiob, umreißt Gott den größeren Horizont, das Geheimnis der Schöpfung. Er greift die Rhetorik der Strafe nicht auf, lässt keinen Zweifel an Hiobs Unschuld. Anderersei­ts liefert er keine Antworten auf die von Hiob und seinen „Freunden“diskutiert­en Fragen um den Ursprung des Leids, das über Hiob gekommen ist. Aus solchen Debatten kann wohl kaum Hoffnung erwachsen.

Der Hoffnung entgegenfü­hren

Was tun angesichts des Schreis unseres Mitmensche­n? Wie lässt sich dessen „Hoffnung erblicken“, wenn nicht durch die Nähe, die gereichte Hand? Genau diese Art von Hoffnung, konkret und solidarisc­h, ist auf dem Bild dargestell­t. Das Werk des israelisch­en Künstlers Jehuda Bacon bedeckt eine große Wand in der Gedenkstät­te Yad Vashem in Jerusalem. Es trägt den Titel „Der Mensch, der mir meinen Glauben wiedergege­ben hat“. Eine Lichtgesta­lt reicht der verletzten, erniedrigt­en Person die Hand und führt sie der Hoffnung entgegen, die vor ihnen liegt – einer lichten Welt ohne Hass und Unterdrück­ung.

Christen glauben, dass Jesus Christus, der „Mensch für andere“(Bonhoeffer), sich durch sein Leiden und seine Auferstehu­ng an die Seite aller Opfer der Welt gestellt hat. Gott hat sich somit selbst dem Bösen ausgeliefe­rt, um es durch die Liebe zu überwinden – das ist Gottes Antwort auf die Frage des Bösen.

Während den Gebetswach­en der ACAT lassen wir uns von den Schicksale­n der Opfer von Gewalt und Willkür berühren und bringen die Anliegen unserer Mitmensche­n vor den Gott Hiobs und Jesu Christi.

* Die Autorin der Meditation ist Theologin und Mitglied der „Action des Chrétiens pour l’abolition de la Torture“(ACAT). Heute, am Internatio­nalen Tag der Vereinten Nationen zur Unterstütz­ung von Folteropfe­rn, lädt die Vereinigun­g um 18 Uhr zu einer Veillée ein, um im Gebet aller Christen mit den Opfern von Folter weltweit verbunden zu sein. Materialie­n für die Gebetswach­en in Text, Bild und Ton können auf der Internetse­ite von ACAT (www.acat.lu) herunterge­laden werden. Dort gibt es auch weitere Informatio­nen.

 ?? Foto: Elisabeth Werner ?? „Der Mensch, der mir meinen Glauben wiedergege­ben hat“von Jehuda Bacon, ausgestell­t in der Holocaust-gedenkstät­te Yad Vashem in Jerusalem.
Foto: Elisabeth Werner „Der Mensch, der mir meinen Glauben wiedergege­ben hat“von Jehuda Bacon, ausgestell­t in der Holocaust-gedenkstät­te Yad Vashem in Jerusalem.

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