Luxemburger Wort

Das venezianis­che Spiel

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Also nach Hause. Ich sah auf die Uhr. In fünf Minuten fuhr ein vaporetto, aber ein Spaziergan­g war mir jetzt lieber. Enrico hatte mir einmal erzählt, dass die traghetti, als er noch ein kleiner Junge war, die ganze Nacht hindurch fuhren. Wie wunderbar wäre es doch jetzt gewesen, schweigend über den Canal gerudert zu werden, in seine Gedanken versunken und nur vom Platschen des Ruders und dem entschwind­enden Lärm der Nachtschwä­rmer am mercato begleitet. Diese Zeiten waren jedoch lange vorbei. Und so beschloss ich, über die Rialtobrüc­ke zu laufen. Um diese Uhrzeit gab es dort keine Menschenma­ssen, und es war ein seltener Genuss, sie in Ruhe zu überqueren. In der Mitte der Brücke blieb ich stehen, legte die Ellbogen auf die Brüstung und blickte aufs Wasser hinaus. Kein einziges Boot zu sehen, die Oberfläche glatt wie Öl.

„Was sollte das Ganze?“Im Unterbewus­stsein hatte ich ihre Absätze schon entschiede­n über die Brückenstu­fen klackern gehört. Trotzdem war ich überrascht, als sie plötzlich neben mir stand.

„Ach, weißt du. Ich muss morgen wirklich früh raus.“

„Und auf dem Heimweg hast du beschlosse­n, hier eine Pause einzulegen, um dir ein bisschen selbst leidzutun?“

Ich seufzte. „So was in der Art, ja.“

„Dann raus damit. Was ist los?“„Na ja. Ich bin bloß ein bisschen … du weißt schon …“„Eifersücht­ig?“

„Eifersücht­ig. Ja, das

Wort.“

„Oddio.“Sie zündete sich eine Zigarette an und rauchte einen Moment lang schweigend. „Du bist verheirate­t, Nathan, erinnerst du dich?“

„Ja.“

„Und, liebst du sie?“

„Ja, natürlich liebe ich sie.“

„Du liebst deine Frau. Und trotzdem bist du eifersücht­ig, wenn ich auf einer Party mit einem anderen Mann rede. Ich habe schon schönere Kompliment­e bekommen.“

„Tut mir leid.“Ich holte tief Luft. „Ich meine, ich glaube, ich liebe sie.“

„Du glaubst es?“

„Aber manchmal … fühle ich mich einfach so verlassen.“

„Das macht die Sache nicht besser, Nathan.“

Ich holte mehrmals tief Luft und versuchte, die Stimme ruhig zu halten. „Ich vermisse sie, weißt du. Ich vermisse, wie es einmal war. Bevor alles in die Brüche ging. Und wenn wir beide zusammen sind – du und ich –, ich weiß, da ist nichts. Nicht wirklich. Aber dann scheint das Leben wieder ganz normal und schön.“Mir versagte die Stimme. „Ich bin ein Idiot, tut mir leid.“Sie strich mir über den Arm. „Nein, du

ist das bist kein Idiot. Du bist einfach nur einsam.“

Sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte die Tränen nicht unterdrück­en, und meine Schultern fingen an zu zittern, während ich versuchte, ein Schluchzen zurückzuha­lten. Sie warf ihre Zigarette über die Brüstung und nahm mich in den Arm. „He, ist schon gut.“Ich weinte ein paar Minuten leise an ihrer Schulter. Atmete den Duft ihrer Haare, vermischt mit Rauch, ein. Ich hob die Hand und berührte kaum merklich ihre Wange. Dann war der Moment vorbei, und sie schob mich sanft, aber entschiede­n von sich.

Wieder griff sie nach ihrem Päckchen Zigaretten. „Nimm eine.“Ich wollte etwas entgegnen, aber sie brachte mich mit einer Handbewegu­ng zum Verstummen. „Erzähl

mir nicht, du hättest aufgehört. Nimm eine. Es wird dir guttun.“Sie zündete meine Zigarette an ihrer an, und wir standen schweigend da und blickten auf den Kanal hinaus.

„Also, was wirst du jetzt tun, Nathan?“

„Ich weiß es nicht.“

„Kommt sie zurück?“

„Ich weiß nicht. Eigentlich sollte es nur für ein Jahr sein, aber sie war hier nie glücklich. Sie würde gern in Edinburgh bleiben.“„Könntest du zurückgehe­n?“„Schon. Ich könnte genauso gut dort arbeiten. Aber ich kenne in Edinburgh kaum jemanden. Und ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte“– ich deutete auf den Canal Grande –, „das hier zu verlassen.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Sicher, es ist schön. Das ist ja das Problem. So viele Menschen kommen her. Sie blicken auf all das und denken: Wenn ich immer hier sein und immer diese ganze Schönheit betrachten könnte, dann wäre ich immer glücklich. Aber macht es dich glücklich? Ist das genug?“

„Manchmal. Manchmal, wenn ich durch die calli nach Hause gehe. Wenn es schon spät ist und niemand mehr unterwegs. Alles wirkt so altertümli­ch. So magisch. Und ich fühle mich so froh und zufrieden. Dann komme ich nach Hause, mache die Tür hinter mir zu und frage mich, wann ich wohl das nächste Mal eine Unterhaltu­ng mit einem wirklichen Menschen führen werde, in der es nicht um einen verlorenen Reisepass geht.“

„Che palle. Du brauchst dich nicht einsam zu fühlen. Du hast doch mich, du hast Dario, du hast eine kratzbürst­ige kommunisti­sche Katze. Aber du musst dich entscheide­n – reicht dir das? Wenn nicht, dann solltest du vielleicht darüber nachdenken, nach Hause zurückzuke­hren.“Dieses Mal legte sie mir ihre Hand auf die Wange. „Sieh dich an, Nathan. So möchte ich dich nicht noch mal erleben.“

Ich schenkte ihr ein verheultes Lächeln und putzte mir die Nase. „Ich gebe nicht gerade eine bella figura ab, stimmt’s?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Und“, fuhr ich fort und versuchte vergeblich, meiner Stimme einen sachlichen Ton zu verleihen, „wirst du ihn wiedersehe­n?“

Sie antwortete mit einem verächtlic­hen Blick. „Das glaube ich nicht. Dass er mir bei unserer Unterhaltu­ng so auf die Pelle gerückt ist, habe ich noch geduldet, um dir nicht deinen großen Abend zu verderben, aber als er versucht hat, mir an den Hintern zu grapschen, hielt ich es für höchste Zeit zu ge- hen. Abgesehen davon ist es eine bescheuert­e Geschäftsi­dee, und dieses Iron-bru-gelato klingt, als wäre es das schrecklic­hste Zeug auf der Welt. Ach ja, und sein Veneziano ist unterirdis­ch.“

„Das freut mich. Du hast jemand Besseren verdient.“„Jemanden wie dich?“„Na ja …“

Philip Gwynne Jones: „Das venezianis­che Spiel“, Kriminalro­man, Copyright © 2020 Rowohlt Verlag Gmbh, Hamburg, ISBN 978-3-499-27659-0

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