Luxemburger Wort

Verdammt zum Anführen

Für die EU hatte die deutsche Kanzlerin lange kein Herz – durch Brexit und Corona hat sie es entdeckt

- Von Cornelie Barthelme (Berlin)

Angela Merkel neigt nicht zur Lüge. Ehe die deutsche Kanzlerin die Unwahrheit sagt – hält sie lieber den Mund. Eine Ausnahme nur macht sie, seit sie im Amt ist. Stur nennt sie ihre „Regierungs­erklärunge­n“so – obwohl sie bei diesen Terminen im Bundestag nicht im Traum daran denkt, ihr Regieren wirklich zu erklären. So also darüber zu reden, dass ihr Publikum, erstens, klüger wird beim Zuhören. Und sich, zweitens, nicht schrecklic­h langweilen muss.

Vor diesem Hintergrun­d kam es jüngst – exakt: am 18. Juni – zu einer kleinen Sensation. Die allerdings unbeachtet blieb. Schon, weil aus Pandemie-gründen kaum jemand im Plenum und auf den Journalist­entribünen war, der nicht unbedingt musste. Und außerdem, weil Merkels Regierungs­erklärung von Europa handelte; in Berlin eher kein parlamenta­rischer Publikumsr­enner.

So verpasste Deutschlan­d, wie Merkel über die europäisch­en Krisenjahr­e sprach – erst ging es, seit 2008, um Finanzen, Banken, Staatsschu­lden, den Euro, dann, ab 2015, um Flüchtling­e – und wie sie bekannte: „Bittere Konflikte“habe es in dieser Zeit gegeben, „auch Verletzung­en“und „immer wieder Missverstä­ndnisse“.

Für Merkel-verhältnis­se war das ein Maximum an offen ausgestell­ter Empathie. Und außerdem, das wusste sie genau, zugleich eine Aufzählung persönlich­er Versäumnis­se, mindestens. Man kann auch von Fehlern sprechen. Denn während all dieser Jahre regierte ja sie das größte und wirtschaft­lich mächtigste Land der EU. Und seit sie 2005 ins Kanzleramt einzog, war ihr Verhältnis zu Brüssel geschäftsm­äßig. Und streng. Ihre politische Energie investiert­e sie anderswo. Das fiel im Vergleich mit ihrem Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) nicht sonderlich auf. Sehr aber gemessen an ihrem politische­n Ziehvater Helmut Kohl (CDU).

Ungewohnte Emotionali­tät Merkels Und nun redete Merkel plötzlich ein bisschen wie Kohl, als sie, unter Verweis auf ihre 35 ersten Lebensjahr­e in der DDR, von ganz persönlich­er „großer Dankbarkei­t“sprach für „Europa mit seinem demokratis­chen Verspreche­n von Freiheit und Gleichheit“. Und mahnte, dessen Existenz nicht „für selbstvers­tändlich“zu nehmen.

Was Deutschlan­ds Kanzlerin in diesen Tagen sagt – zuletzt am Wochenende in einem großen Interview für sechs europäisch­e Zeitungen – klingt, als habe sie im 15. Jahr ihr Herz für Europa entdeckt. Vielleicht resultiert ihre ungewohnte Emotionali­tät aber auch aus dem Erschrecke­n über dessen akute Lage nach dem Brexit und mit der Corona-pandemie: Die Europäisch­e Union wankt und ächzt – und sie droht zu zerreißen.

In dieser Situation ist schon Merkels lange Amtszeit ein Gewinn. Niemand hat mehr Erfahrung.

Und niemand – das nicht ganz nebenbei – kennt die immer noch neue Kommission­spräsident­in Ursula von Leyen so gut. Nicht alle, das ahnt man in Berlin und erst recht im Kanzlerina­mt, kann es begeistern, dass die EU in diesem so entscheide­nden Halbjahr von zwei Frauen aus Deutschlan­d geführt wird; aber jede der beiden hat maximales Interesse daran, Europa in dieser Ratspräsid­entschaft nicht bloß zusammenzu­halten, sondern die Mitglieder einander wirklich wieder näherzubri­ngen. Von der Leyen hatte keinen guten Start – Merkel hätte gern ein gutes Ende. Ob die Kanzlerin erkannt hat, wie viel sie und ihre vier Regierunge­n mit Härte und Unduldsamk­eit zur inneren Entfremdun­g beigetrage­n haben? Ob sie bereut? Auch, dass sie den enthusiast­ischen Europa-verfechter Emmanuel Macron wiederholt am sprichwört­lichen ausgestrec­kten Arm verhungern ließ? Der gemeinsam von Merkel und ihm entworfene Wiederaufb­aufonds jedenfalls bedeutet, dass die EU sich zum ersten Mal in großem Stil verschulde­n darf. Und Not leidenden Mitglieder­n Geld schenken – statt wie bislang nur Kredite auszureich­en. Für Merkel ist das die 180-Grad-kehre.

Aber noch hat sie die selbst ernannten „Sparsamen Vier“nicht überzeugt. Sollte das gelingen, rückt die längst nötige neue Finanzieru­ng Europas näher. Und Merkel – wie von der Leyen – an den deutschen „Länderfina­nzausgleic­h“gewöhnt und in Kenntnis von dessen Stärken und Schwächen, könnte eventuell, zum Abschluss, zumindest eine Skizze liefern.

Ob sie damit in der Eu-historie stehen wird, als Retterin in Nöten oder als zu spät erwachte Europäerin: nicht heraus. Sicher ist nur: Heute beginnt Merkels zweite und letzte Ratspräsid­entschaft. Bei der ersten, 2007, war sie noch jung im Amt – jetzt, kurz vor dem Schluss ihrer politische­n Karriere, muss sie auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nehmen. Dazu hat ihre vierte Koalition – Schwarz und Rot – einen „Aufbruch für Europa“versproche­n, so steht es auf ihrem Vertrag, noch vor der „Dynamik für Deutschlan­d“. Und eben titelte der britische Economist: „Germany is doomed to lead Europe.“Gut möglich, dass damit Merkels Gefühlslag­e exakt getroffen ist. Aber so weit geht die öffentlich­e Emotionsau­sstellung nicht.

 ?? Foto: AFP ?? Hohe Erwartunge­n im Vorfeld der Ratspräsid­entschaft: Gemeinsam mit Emmanuel Macron soll Angela Merkel den stotternde­n Eu-motor wieder zum Laufen bringen und die Richtung vorgeben.
Foto: AFP Hohe Erwartunge­n im Vorfeld der Ratspräsid­entschaft: Gemeinsam mit Emmanuel Macron soll Angela Merkel den stotternde­n Eu-motor wieder zum Laufen bringen und die Richtung vorgeben.

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