Der letzte Kompromiss
Rückblick auf die abgeschlossenen Tripartite-verhandlungen von 2006, die bis heute nachwirken
Die Corona-krise wird zweifellos tiefe Narben sowohl in der Weltwie auch in der luxemburgischen Wirtschaft hinterlassen. Diese können zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht genau abgeschätzt werden. Um dem entgegenzuwirken findet heute die erste Runde einer großen Tripartite statt. Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften werden nach Auswegen aus der Krise suchen. Die letzten Tripartite-verhandlungen die zu allgemeinen Beschlüssen geführt haben, gingen von Oktober 2005 bis April 2006. Obwohl die wirtschaftlichen Ausgangslagen der Krisen grundlegend unterschiedlich sind, können Lehren von damals für heute gezogen werden.
Das Gleichgewicht herstellen, die Zukunft absichern. So lautete die Leitlinie des damaligen Tripartite-abkommens. Laut Regierung waren die öffentlichen Finanzen, die Arbeitslosigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen ins Ungleichgewicht geraten. Doch genau der letztgenannte Punkt war das Hauptstreitthema. Für Arbeitnehmer und Gewerkschaften ist der Index der zentrale Punkt des Luxemburger Sozialstaates. Durch die automatischen Lohnanpassungen, soll ein sozialer Ausgleich stattfinden. Arbeitgeber indes sehen in den regelmäßigen Lohnerhöhungen eine Bedrohung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Landesbetriebe.
Desindexierung
Die damals gefundene Lösung: Index-tranchen für drei Jahre verschieben und die Erziehungspauschale sowie die Leistungen der „Caisse nationale des prestations familiales“vom Index entkoppeln. Auch beim öffentlichen Dienst wurde eine Lohnnullrunde für die Jahre 2007 und 2008 verhängt.
Doch gleich nach der Unterzeichnung des Abkommens schienen die Staatsfinanzen weit gesünder zu sein und die Beschäftigung
wieder anzuziehen, eine bessere Ausgangslage als im Voraus angenommen worden war. Dies veranlasste den damaligen Gewerkschaftsvorsitzenden des OGBL, Jean-claude Reding, noch Jahre später den Vorgang als „Vertrauensbruch“zu bezeichnen.
Doch bis heute wirken die damals getroffenen Entscheidungen nach. Besonders Alleinerziehende leiden unter einem erhöhten Armutsrisiko, weil das Kindergeld in ihrem Budget eine wichtigere Rolle spielt als bei Paaren. Noch am 1. Mai dieses Jahres hat die aktuelle Ogbl-präsidentin Nora Back von der Regierung verlangt, unter anderem das Kindergeld aufzuwerten. Um die Maßnahmen von 2006 auf die unteren Einkommensschichten abzuwiegen, sollten ein Steuerkredit sowie die ausgebaute Kinderbetreuung aushelfen. Auch die Kindergeld-kürzungen unter liberaler Führung im Jahr 2016 ließen den LCGB Sturm laufen und trugen nicht zu einer Verbesserung der Situation bei. Dies lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass Luxemburg 2013 vom Europäischen Gerichtshof dazu verurteilt wurde, höhere Studienbeihilfen an Kinder von Grenzgängern zu zahlen. Die Staatsausgaben explodierten.
Kleinster gemeinsamer Nenner
Das Luxemburger Modell der Tripartite-verhandlungen beruht auf Kompromiss. Dies wird auch das Ziel der heute beginnenden Tripartite-verhandlungen sein. 2006 musste auch die Regierung ihre Erwartungen zurückschrauben. Der damalige Premierminister Jean Claude Juncker (CSV) musste von seiner Zielvorstellung abweichen, keine Steuererhöhung vorzunehmen. Die Mehrausgaben durch die zuvor steil gestiegene Arbeitslosigkeit belasteten den Staatshaushalt zu stark.
Die Solidaritätssteuer, die wie die Tripartite selbst ihren Ursprung Ende der 1970er-jahre hat und als Hilfsinstrument infolge der Stahlkrise eingeführt wurde, musste um ein Prozent auf 3,5 Prozent erhöht werden. Dies betraf sowohl die Beschäftigten, wie auch die Unternehmen. Die Steuereinnahmen fließen ohne Umwege in den Beschäftigungsfonds. Diese Vermögensreserve speist das Arbeitslosengeld, einen Teil der Frührenten, bestimmte beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen, Betriebspraktika und Prämien für
Unternehmen, die behinderte Mitmenschen oder Langzeitarbeitlose einstellen. Diese Steuer sprang, insgesamt gesehen, wegen der Finanzkrise 2008, von 2,5 auf neun Prozent.
Einheitsstatut
Das Gleichgewicht herstellen, die Zukunft absichern.
Die „Jahrhundertreform“des Einheitsstatuts, wie Jean Claude Juncker sie später nannte, beinhaltete die Gleichstellung von Arbeitern und Privatbeamten. Diese Reform fand ihren Ursprung in der Tripartite von 2006. Die Zugeständnisse wurden dem dritten Tripartite-partner, den Arbeitgebern, von den Gewerkschaften abgerungen. Wie der ehemalige Arbeitsminister François Biltgen (CSV) 2018 in einem Interview mit dem „Luxemburger Wort“erklärte, hatte sich durch die Einführung des Einheitsstatuts auch der Sozialdialog in den Betrieben nachhaltig verändert. Es gibt seitdem nur noch eine Personaldelegation, die durch die Zusammenlegung stärker geworden ist. Des Weiteren wurde mit dem Einheitsstatut der Gewerkschaftsurlaub eingeführt.
Trotz Zugeständnissen der beiden anderen Verhandlungsparteien fühlten sich die Gewerkschaften am Ende hintergangen. Ihre Hauptforderung, nichts am Index zu ändern, kam nicht durch. Dies erklärt auch den Umstand, dass es seit 2006 zu keiner großen Tripartite-einigung mehr kam, obwohl es an Krisen nicht mangelte. Die Fronten haben sich verhärtet. Nun stellt sich die Frage inwieweit die neuen Köpfe, die 2006 nicht an den Verhandlungen teilnahmen, mit diesem Umstand umgehen.
Zukünftige Historiker und Ökonomen werden sich der Frage hingeben können, inwieweit die 2006 getroffenen Tripartite-beschlüsse, durch Zufall das Großherzogtum widerstandsfähiger gegenüber der Weltwirtschaftskrise von 2008 gemacht haben, oder zum Langzeittrend, der Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich, beigetragen haben.
Eigentümer, die ihr Eigenheim über einen Bankkredit finanzieren, geraten ebenfalls immer stärker finanziell unter Druck, wie Kristell Leduc vom LISER erklärte. Auch hier steigt der Anteil derer, die mehr als 40 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für die Tilgung eines Bankkredits aufbringen. Im ersten Quintil, also den untersten 20 Prozent, ist der Anteil von 42,1 (2010) auf 55,6 Prozent (2018) gestiegen. Das entspricht 6 400 Haushalten. Im zweiten Quintil sind 5 400 Haushalte in dem Fall. Macht zusammen 29 800 Haushalte, die 2018 mehr als 40 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen aufbringen mussten. Da die Immobilienpreise in den vergangenen zwei Jahren weiter stark gestiegen sind, ist davon auszugehen, dass die Zahl der Haushalte, die wegen der Wohnkosten finanziell unter Druck stehen, noch zugenommen hat.
Die Politik, in diesem Fall Wohnungsbauminister Henri Kox (Déi Gréng), möchte ganz besonders den unteren Einkommensschichten helfen und ihnen erschwinglichen Wohnraum anbieten. Doch erschwinglich bedeutet je nach Einkommenssituation und Haushaltszusammensetzung etwas anderes. In einer zweiten Studie hat das LISER deshalb eine Definition ausgearbeitet.
Das Ergebnis: Erschwinglicher Wohnraum ist eine Zwischenkategorie zwischen Übergangsunterkünften für Menschen in Not einerseits und Wohnraum auf dem privaten Markt andererseits. Erschwingliche Wohnungen sind Studentenwohnungen und Sozialwohnungen im Miet-, aber auch im Verkaufssegment.