Luxemburger Wort

Das Ende der „historisch­en Wahrheit“

Im Fall der 43 Studenten von Ayotzinapa: Mexikos Staatsanwa­ltschaft schreibt 46 Ex-funktionär­e und den Ex-ermittler zur Fahndung aus

- Von Klaus Ehringfeld (Mexico City)

„Die historisch­e Wahrheit gibt es nicht mehr“. Mit diesem Satz, auf den viele Menschen in Mexiko fast sechs Jahre warten mussten, hat Generalsta­atsanwalt Alejandro Gertz völlig unerwartet neue Dynamik in die Ermittlung­en zum Verschwind­en der 43 Studenten von Ayotzinapa gebracht. Das Verbrechen vom 26. September 2014 hat Mexiko wie kaum ein anderes in der jüngeren Geschichte bewegt und auch internatio­nal für Entsetzen gesorgt.

Bis heute ist nicht klar, was damals mit den Lehramtsst­udenten der Landuniver­sität Ayotzinapa passierte. Und bis heute ist das Verbrechen ungesühnt. Aber jetzt, zwei Jahre nach der Wahl von Linkspräsi­dent Andrés Manuel López Obrador, will die Justiz das Verbrechen aufrollen. Der Generalsta­atsanwalt schrieb nun 46 Exstaatsdi­ener zur Fahndung aus, die in das Verschwind­en der jungen Männer verwickelt sein sollen. Die meisten von ihnen stammen aus Guerrero, dem Bundesstaa­t im Südwesten Mexikos, wo die Studenten seinerzeit verschwand­en. Damals präsentier­ten die Ermittler

der Vorgängerr­egierung von Präsident Enrique Peña Nieto wenige Wochen nach der Tat eine hanebüchen­e Version des Hergangs. Demnach wurden die 43 jungen Männer von dem lokalen Drogenkart­ell „Guerreros Unidos“in der Stadt Iguala in Komplizens­chaft mit der örtlichen Polizei und dem korrupten Bürgermeis­ter verschlepp­t und getötet. Anschließe­nd seien die Leichen auf einer Müllkippe in der Nähe verbrannt worden. Diese Version ist später durch die Juristen, Ärzte und Psychologe­n einer internatio­nalen Expertenko­mmission als frei erfunden widerlegt worden.

Angehörige werfen den Strafverfo­lgern vor, die Ermittlung­en bewusst in eine falsche Richtung gelenkt zu haben, um die Hintergrün­de der Tat zu verschleie­rn. Es kann auch sein, dass die Justiz das Verbrechen mit dieser als „historisch­en Wahrheit“verkauften Version möglichst schnell abschließe­n wollte. „Amnesty Internatio­nal“bezeichnet­e diese Version jedenfalls als „historisch­e Lüge“. Seit den Worten von Generalsta­atsanwalt Gertz vom Dienstag ist das nun offizielle Regierungs­meinung.

Früherer Chefermitt­ler wird nun

mit Haftbefehl gesucht

Auch der frühere Chefermitt­ler Tomás Zerón, der die Untersuchu­ngen in dem Fall leitete, wird jetzt mit Haftbefehl gesucht. Zerón ist allerdings seit Längerem untergetau­cht und befindet sich nach Berichten der mexikanisc­hen Presse in Kanada. Ihm werden Folter, Verschwind­enlassen von Menschen und die Behinderun­g der Justiz vorgeworfe­n. Er soll damals Geständnis­se erpresst haben, auf der die „historisch­e Wahrheit“beruhte. Von mehr als 140 Personen, die bereits wegen des Falls inhaftiert wurden, mussten 77 wieder freigelass­en werden, unter anderem, weil sie gefoltert worden waren.

Für die Angehörige­n der 43 sei die offizielle Distanzier­ung von der „historisch­en Wahrheit“ein positives Zeichen, sagt ihr Anwalt Vidulfo Rosales. „Wir gehen nach wie vor davon aus, dass Sicherheit­skräfte von Gemeinde, Bundesund Zentralsta­at gemeinsam mit dem lokalen Drogenkart­ell an der Tat beteiligt waren. „Sie wissen, wo die sterbliche­n Überreste der 43 sind“, unterstrei­cht Rosales. Doch die Täter hätten ein „Schweigege­lübde“abgelegt.

Aufklärung bringen könnte der vor wenigen Tagen festgenomm­ene Boss der „Guerreros Unidos“, das an der mutmaßlich­en Ermordung der 43 jungen Männer beteiligt war. José Ángel Casarrubia­s, genannt „El Mochomo“, wurde zwar am Dienstag aus angebliche­m Mangel an Beweisen kurzfristi­g wieder freigelass­en, aber dann sofort wieder festgesetz­t. Drei seiner Brüder waren bereits früher festgenomm­en worden, alle gelten sie als führende Mitglieder der Guerreros Unidos. Die Angehörige­n halten „El Mochomo“für einen entscheide­nden Zeugen, der wisse, was mit den Opfern passiert ist.

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Foto: AFP Immer wieder kommt es in Mexiko seit dem Verschwind­en der Studenten zu Mahnwachen und Demonstrat­ionen.

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