Mehr als 80 Tote bei Protesten in Äthiopien
Der Tod des Sängers Hachalu Hundessa facht die Wut der Oromo-nationalisten im Vielvölkerstaat an
Hachalu Hundessa war mehr als ein Sänger. Er war ein Idol des äthiopischen Mehrheitsvolks der Oromo, die sich in Afrikas einzigem nichtkolonialisiertem Staat seit Hunderten von Jahren benachteiligt fühlen. Hundessa wuchs als Viehhirte in Ambo, rund 100 Kilometer westlich der Hauptstadt Addis Abeba, auf. Sein Vater wollte, dass er Arzt wird: Doch schon mit 17 Jahren landete der demonstrierende Student im Gefängnis.
Dort lernte er, wie man Verse schreibt und Melodien komponiert: Während der fünfjährigen Haft schrieb er seine ersten neun Lieder. Eine Sturm-und-drang-mischung aus Liebesromantik und Freiheitspoesie machte ihn nach seiner Freilassung 2008 fast schlagartig zur Berühmtheit. Während der vor vier Jahren ausbrechenden Unruhen im Oromo-land wurden Hundessas Lieder zu Hymnen
der Oromo-proteste: Sein Hit „Waa'ee Keenya“(Unsere Not) war das meistverkaufte afrikanische Album auf Amazon. „Warte nicht auf fremde Hilfe“, heißt es in einem seiner berühmtesten Lieder: „Sattle dein Pferd und kämpfe, du bist schon nahe am Palast.“
Blutige Unruhen
Montagnacht wurde der 34-jährige Sänger in Addis Abeba im Auto erschossen. Der Mord löste in Äthiopien tagelange Unruhen aus – mehr als 80 Menschen kamen ums Leben, zahlreiche Demonstranten wurden festgenommen. Bewaffnete Jugendliche zogen in Gruppen durch die Hauptstadtstraßen, Soldaten fuhren auf. Auch prominente Politiker wie der militante Oromo-führer Jawar Mohammed und der Journalist und Gegner des Oromo-nationalismus, Eskinder Nega, landeten hinter Gittern, im ganzen Land wurde das Internet abgeschaltet. Einmal mehr steht der Unruhestaat auf der Kippe: Regierungschef
Abiy Ahmed, der vor eineinhalb Jahren den Friedensnobelpreis erhielt, droht die Kontrolle über die mehr als hundert Millionen Einwohner zählende Vielvölkernation aus der Hand zu gleiten.
Wer für Hundessas Mord verantwortlich ist, steht zumindest noch in den Sternen. Die Polizei nahm offenbar zwei Verdächtige fest: Über ihre Herkunft und Zugehörigkeit wurde bislang allerdings nichts bekannt. Nationalistische Oromo machen zumindest indirekt Premierminister Ahmed verantwortlich, der sich den Ambitionen seines Volkes in den Weg stelle. Der 43-jährige Regierungschef ist selbst Oromo. Doch von den Autonomiebestrebungen seiner nationalistischen Landsleute hält er nichts. Der ehemalige Geheimdienstoffizier
will den Föderalismus beenden, den seine Vorgänger benutzten, um die vier maßgeblichen Ethnien Äthiopiens gegeneinander auszuspielen. Jahrzehntelang hatten die Tigre (rund sechs Prozent) den Ton angegeben, während sich die Oromo (34 Prozent), die Amhara (27 Prozent) und die Somali (ebenfalls sechs Prozent) an den Rand gedrängt fühlten.
Im November des vergangenen Jahres wandelte der Friedensnobelpreisträger die regierende Demokratische Revolutionäre Volksfront (EPRDF) – eine Koalition ethnisch definierter Parteien – in die unitaristische Wohlstandspartei (Prosperity Party) um, was die nationalistischen Kräfte aller vier maßgeblichen Ethnien entschieden ablehnen. Sie haben sich in einem Bündnis ethnisch definierter Parteien zusammengeschlossen, das für eine weitgehende Autonomie der Siedlungsgebiete der jeweiligen Bevölkerungsgruppen eintritt. Eigentlich sollten im August
Wahlen stattfinden, in denen sich Ahmeds Wohlstandpartei gegen das ethno-nationalistische Bündnis behaupten hätten müssen. Wegen der Corona-pandemie wurde die Abstimmung jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben. Der Staat am Horn von Afrika meldete bislang knapp 6 000 Ansteckungsund 103 Corona-todesfälle.
Mehrere Verletzte
Hundessa wurde gestern unter starken Sicherheitsvorkehrungen in seiner Heimatstadt Ambo bestattet. Nationalistische Oromo wollten, dass ihr Idol in Addis Abeba beerdigt wird: Die umstrittene Hauptstadt liegt in ihrem traditionellen Siedlungsgebiet, wird von der Zentralregierung jedoch als extraterritoriale Region behandelt. Am Rand der nur von wenigen Menschen besuchten Bestattungsfeier kam es zu Schießereien zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten, bei denen mehrere Personen verletzt worden sein sollen.
Einmal mehr steht der Unruhestaat auf der Kippe.