Luxemburger Wort

Macron wagt den Neuanfang

Mit dem neuen Regierungs­chef Jean Castex dürfte es in Frankreich jedoch nicht zu einem Kurswechse­l kommen

- Von Christine Longin (Paris)

Vor der Ernennung eines neuen Regierungs­chefs wird in Frankreich viel spekuliert. Meist ist der Name, der bekannt gegeben wird, schon irgendwann einmal gefallen. Doch die Personalen­tscheidung, die Emmanuel Macron gestern verkünden ließ, ist eine faustdicke Überraschu­ng.

Der kaum bekannte Jean Castex soll auf Edouard Philippe folgen. Damit entscheide­t sich der Staatschef für einen klar konservati­ven Kurs, den der 55-Jährige Castex verkörpert: Er war Sozialbera­ter des früheren Präsidente­n Nicolas Sarkozy. Als Sozialexpe­rte ist der neue Premiermin­ister bestens vorbereite­t auf die Themen, die Macron in den kommenden Monaten angehen will. Er wolle sich vor allem um Gesundheit­spolitik, die Senioren und die Jugend kümmern, kündigte der Präsident in einem Interview mit mehreren Regionalze­itungen an.

„Eine neue Etappe“

Nach dem Debakel seiner Partei bei den Kommunalwa­hlen am vergangene­n Sonntag will Macron sich nun mit einem neuen Team neu aufstellen. „Eine neue Etappe mit neuen Talenten und neuen Regierungs­methoden beginnt“, teilte der Elysée-Palast mit. Anderthalb Jahre vor den Präsidents­chaftswahl­en will sich der 42-Jährige damit eine gute Ausgangspo­sition sichern. Für den Neuanfang opfert er seinen Regierungs­chef Philippe, der einen überwältig­endem Wahlsieg in Le Havre eingefahre­n hatte. Der frühere Konservati­ve war mit gut 58 Prozent zum Bürgermeis­ter gewählt worden – ein Amt, das er nun auch antreten wird.

Obwohl der Staatschef die „einzigarti­ge Vertrauens­beziehung“gelobt hatte, die ihn mit seinem Premiermin­ister verbinde, war der hochgewach­sene Politiker in den vergangene­n Wochen zum Problem geworden: Die Popularitä­t Philippes hatte die von Macron bei Weitem übertroffe­n. 59 Prozent der Franzosen wollten, dass er im Amt bleibt. Sie schätzten in der Corona-Krise die ruhige, nüchterne Art des Premiermin­isters, der sich damit vom Pathos des Präsidente­n unterschie­d.

Philippe hatte stets versucht, eigene Vorstellun­gen durchzuset­zen. So geht das umstritten­e Tempolimit von 80 Stundenkil­ometern auf Landstraße­n auf sein Konto. Auch die Erhöhung des Renteneint­rittsalter­s, ein Aufreger in den Protesten gegen die Rentenrefo­rm, kam vom Regierungs­chef. Macron könnte nun Philippes Abgang nutzen, um diesen Teil des Projekts zu beerdigen.

Für die konservati­ven Republikan­er ist die Ernennung von Castex bitter. Macron hatte den Absolvente­n der Elite-Hochschule ENA schon im Frühjahr abgeworben, um ihn zu seinem Beauftragt­en für die Corona-Lockerunge­n zumachen. „Was Verrat angeht, haben wir schon viel erlebt“, sagte Republikan­er-Chef Christian Jacob. Auch Philippe und mehrere Minister waren von den Republikan­ern ins Macron-Lager gewechselt. Philippe hatte sich allerdings nie Macrons Partei La République en Marche (LREM) angeschlos­sen.

Für die konservati­ven Republikan­er ist die Ernennung von Castex bitter.

Das ist keine Wende, sondern eine Orientieru­ng weiter nach rechts. Rachid Temal, Sozialist

„Ich bin mir der gewaltigen Aufgabe bewusst, die vor mir liegt“, reagierte Castex in einer Mitteilung. In seinem neuen Amt sollen ihm auch die Erfahrunge­n, die er als Bürgermeis­ter gesammelt hat, helfen. Sollte er wegen des neuen Amts nicht mehr Bürgermeis­ter von Prades bleiben können, wolle er aber im Gemeindera­t bleiben. Angesichts der Folgen der Corona-Krise will der neue Premiermin­ister Frankreich einen. Heute beginne eine neue Etappe der fünfjährig­en Amtszeit von Präsident Emmanuel Macron, sagte Castex gestern bei der Amtsüberga­be im Hôtel Matignon in Paris. „Sie wird sehr weitgehend von einem neuen Kontext diktiert. (...) Einem schwierige­n Kontext.“Die Prioritäte­n müssten sich nun ändern.

Castex’ neues Kabinett wird in den nächsten Tagen mit Spannung erwartet. Im Innenminis­terium, wo Christophe Castaner wegen Polizeigew­alt in der Kritik ist, könnte es einen Wechsel geben. Auch im Umweltmini­sterium wird ein neuer Ressortche­f erwartet, der eine stärker ökologisch­e Ausrichtun­g haben soll als Amtsinhabe­rin Elisabeth Borne. Als Kandidaten sind der Europaabge­ordnete und frühere Generaldir­ektor des WWF Frankreich, Pascal Canfin, und die französisc­he Chefunterh­ändlerin bei der Pariser Klimakonfe­renz, Laurence Tubiana, im Gespräch.

„Das Gegenteil der grünen Welle“

Die von Macrons Beratern angekündig­te sozial-ökologisch­e Wende ist mit Castex allerdings kaum möglich. „Das ist keine Wende, sondern eine Orientieru­ng weiter nach rechts“, kritisiert­e der Sozialist Rachid Temal im Fernsehsen­der BFMTV die Personalie. Die Sozialiste­n hatten zusammen mit den Grünen am vergangene­n Sonntag die Rathäuser fast aller Großstädte erobert. Als Reaktion auf die „grüne Welle“war eine stärker umweltorie­ntierte Politik des Präsidente­n erwartet worden. „Die Wahl von Jean Castex ist genau das Gegenteil der grünen Welle“, bemerkte Sandra Regol von Europe Ecologie Les Verts (EELV).

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Applaus für den Neuen: Der scheidende Premiermin­ister Edouard Philippe (l.) verabschie­det sich und wird Bürgermeis­ter in Le Havre. Jean Castex freut sich auf die vor ihm liegenden Herausford­erungen.
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Fotos: AFP Auf den Treppen des Hôtel Matignon gibt der sehr populäre Edouard Philippe seinem Nachfolger Jean Castex gute Ratschläge mit auf den steinigen Weg.

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