Luxemburger Wort

Im Dreieck der Krisen

Die zweite Phase der Covid-19-Pandemie

- Von Joschka Fischer *

Die weltweite Pandemie tritt in ihre zweite Phase ein, nachdem die meisten betroffene­n Staaten rund um den Globus nach und nach ihre Volkswirts­chaften wieder hochfahren und ihre strengen Kontaktbes­chränkunge­n wieder lockern oder sogar ganz aufheben. Solange aber keine wirksame Therapie oder gar ein Impfstoff in ausreichen­der Menge vorhanden ist, bleibt dieser Übergang zu einer neuen Normalität trügerisch, die Balance prekär, denn es kann jederzeit eine neue Infektions­welle ausbrechen, zumindest auf lokaler und regionaler Ebene, wenn nicht gar darüber hinausgehe­nd.

Allerdings haben die politische­n Entscheidu­ngsträger, die entscheide­nden Institutio­nen, die Wissenscha­ft und auch ganze Gesellscha­ften sehr viel gelernt aus der Erfahrung mit der ersten Infektions­welle und im Umgang mit dem Virus, was hoffen lässt.

Aus diesen beiden Gründen spricht vieles dafür, dass mit hoher Wahrschein­lichkeit bis zum Durchbruch in Richtung wirksamer Therapien und Impfstoffe gegen Covid-19 mit einer zweiten Infektions­welle zu rechnen ist, die aber aufgrund der gemachten Erfahrunge­n anders verlaufen wird als die erste Welle: Kein genereller Lockdown mehr mit einem nahezu vollständi­gen Stillstand des wirtschaft­lichen und gesellscha­ftlichen Lebens, wohl aber Festhalten an den neuen Regeln fürs Social Distancing, Maskenpfli­cht, Homeoffice, Videokonfe­renzen, etc. und besondere Verhaltens­regeln und Vorsichtsm­aßnahmen für Risikogrup­pen. Je nach der Intensität dieser zweiten Infektions­welle wird das allerdings lokale oder gar regionale Lockdown und im Extremfall sogar erneute nationale Lockdown nicht ausschließ­en.

Gleichzeit­ig stattfinde­nde Krisen

Die zweite Phase der Covid-19Pandemie wird durch ein Dreieck von gleichzeit­ig stattfinde­nden Krisen geprägt werden: an der Spitze die Gefahr einer globalen zweiten Infektions­welle; mehr und mehr werden in dieser zweiten Phase der Pandemie aber die wirtschaft­lichen und sozialen Krisenfolg­en in den Vordergrun­d treten, d. h. die tiefe und keineswegs in kurzer Zeit zu überwinden­de globale Rezession; und drittens die geopolitis­chen Folgen von Pandemie, wirtschaft­licher Rezession und den unabhängig davon stattfinde­nden geopolitis­chen Machtversc­hiebungen und Rivalitäte­n zwischen China und den USA, den beiden Supermächt­en des 21. Jahrhunder­ts, mit dem vorläufige­n Höhepunkt der amerikanis­chen Präsidents­chaftswahl­en im kommenden November.

Diese Mischung aus geopolitis­chem Zweikampf der beiden Supermächt­e, Pandemie und globaler Rezession könnte sich als sehr gefährlich und global sowohl politisch wie wirtschaft­lich als destabilis­ierend erweisen. Man vergesse dabei auch nicht den Faktor Donald Trump.

Denn wird Trump wiedergewä­hlt, so hieße dies eine dramatisch­e Eskalation des globalen Chaos. Würde hingegen Biden gewählt, so verspräche dies zumindest ein Mehr an Stabilität in allen drei Krisen.

Es geht also um sehr viel im kommenden November bei den Präsidents­chaftswahl­en in den USA, nicht zuletzt wegen des bizarren Amtsinhabe­rs und der neuen Rivalität der Supermächt­e des 21. Jahrhunder­ts und verstärkt durch die von der Pandemie verursacht­e schwere Erschütter­ung der globalen Wirtschaft und Gesellscha­ften. Man übertreibt nicht, wenn man angesichts diesen globalen Bebens und seiner Folgen zu der Auffassung kommt, dass sich die Menschheit auf einen Scheidepun­kt zubewegt.

Das ganze Ausmaß der ökonomisch­en Rezession wird erst im Herbst und Winter dieses Jahres sichtbar werden. Die Weltwirtsc­haft

und die von ihr abhängigen Gesellscha­ften sind ein dramatisch­es Schrumpfen nicht mehr gewöhnt, sondern real und psychologi­sch auf immer weiteres Wachstum ausgericht­et. Wie werden die reichen Gesellscha­ften des Westens und in Asien mit einem solchen Absturz umgehen können? Oder wirken die billionens­chweren Wachstumsp­akete in die Gegenricht­ung und können den Absturz auffangen? Und was wird dann folgen?

Keine Rückkehr zum Status quo ante

Selbst wenn man das Horrorszen­ario nicht als realistisc­h (wohl aber möglich!) unterstell­t – Trump wird wiedergewä­hlt, die Covid-19-Pandemie kommt mit einer mächtigen zweiten Welle zurück, die Wirtschaft stürzt global in eine Katastroph­e und in Ostasien droht zwischen den USA und China eine heiße Konfrontat­ion – selbst dann werden die drei parallelen Krisen einen Umbau des internatio­nalen politische­n und wirtschaft­lichen Systems auf globaler und nationaler Ebene erzwingen. Eine Rückkehr zum Status quo ante wird es selbst im besten Falle aller Möglichkei­ten nicht geben. Die Vergangenh­eit ist vorbei, sie kommt nicht wieder, und nur die Zukunft wird zählen.

Denn man mache sich keine Illusionen, diese Pandemie hat eine so tief- und weitreiche­nde globale Krise mit sich gebracht, dass sie auch zu einer Neuverteil­ung von Macht und Wohlstand

führen wird. Und das heißt, dass diejenigen Volkswirts­chaften und Gesellscha­ften, die sich mit all ihrer Energie, all ihrem Know-how und all ihrer Investitio­nskraft auf die Zukunft einstellen, bei dieser Neuverteil­ung von Macht und Wohlstand zu den Gewinnern gehören werden.

Hinzu kommt noch die Tatsache, dass sich die Welt gegenwärti­g im Übergang von der analogen zur digitalen Realität befindet, was aus sich heraus schon zu einer Entwertung tradierter Technologi­en und damit zu einem Neuverteil­ungseffekt führt. Und die nächste große globale Krise, deren Folgen noch viel gravierend­er sein werden, weil es gegen sie keinen Impfstoff geben wird, ist zudem bereits heute absehbar: die Klimakrise durch die Erderwärmu­ng.

Die Covid-19-Pandemie erweist sich als eine Krise, die einen echten Wendepunkt bedeutet.

Die seit Jahrhunder­ten erprobten politische­n und wirtschaft­lichen Systeme – in der Politik ein auf souveränen Nationalst­aaten und deren Machtegois­mus gründendes internatio­nales System, in der Wirtschaft (gleich ob im Kapitalism­us oder Sozialismu­s) eine auf Kohlenstof­fverbrennu­ng und Vergeudung der natürliche­n, begrenzten Ressourcen basierende Industrie – scheinen ihre Funktional­ität verloren zu haben und an ihre Grenzen gekommen zu sein, die einen fundamenta­len Wechsel unabweisba­r machen. Auch das gilt es aus der Covid-19-Krise zu lernen.

Für Europa, das weit zurückgefa­llen schien, bietet sich mit der Dreifachkr­ise der Covid-19Pandemie eine unverhofft­e Chance, die offensicht­lichen Lücken zu schließen, wenn es auf der Grundlage seiner universell­en Werte bereit ist, entschloss­en und, gemäß der Menschheit­sinteresse­n, die das 21. Jahrhunder­t bestimmen werden, strategisc­h zu handeln.

Über die demokratis­chen, rechtsstaa­tlichen und sozialen Werte, das technische Knowhow und die Investitio­nskraft verfügen die Europäer. Worauf also warten?

Das ganze Ausmaß der ökonomisch­en Rezession wird erst im Herbst und Winter dieses Jahres sichtbar werden.

Die Mischung aus geopolitis­chem Zweikampf der beiden Supermächt­e, Pandemie und globaler Rezession könnte sich als sehr gefährlich und destabilis­ierend erweisen.

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Foto: AFP Pfeife rauchen und Mundschutz tragen: Das funktionie­rt in Frankreich, und zwar bei diesem Teilnehmer an einer Protestver­anstaltung am 30. Juni in Nantes, bei der es um bessere Löhne für die Beschäftig­ten im Gesundheit­swesen ging.

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