Luxemburger Wort

Umarmt mich!

Das Teatro Real in Madrid ist das erste, das sich wieder an eine komplette Opernauffü­hrung wagt

- Von Martin Dahms (Madrid)

„Hier dürfen Sie nicht sein,“sagt ein vermummter Platzanwei­ser und schickt den Besucher fort von der Brüstung im zweiten Stock, von der sich wunderbar das Foyer überblicke­n lässt. Nur ein paar Menschen verlieren sich dort unten, wahrschein­lich werden sie ebenso fortgeschi­ckt wie die hier oben, ab in einen der eleganten Seitensäle. Das ist keine Strafe, sondern eine der tausend Sicherheit­smaßnahmen, die sich das Teatro Real, Madrids Opernhaus, für diese Traviata-Premiere ausgedacht hat.

Nirgendwo sollen sich zu viele Besucher über den Weg laufen, nie zu viele Menschen beieinande­rstehen, überall reichlich Raum für den Sicherheit­sabstand zu allen anderen sein.

Jetzt gibt es 19 „Sektoren“im Theater, so nennt sie ihr Generaldir­ektor Ignacio García-Belenguer, in die sich jeder, je nach seinem Sitzplatz, zu begeben hat, wenn er die 40-minütige Pause nicht auf seinem Stuhl sitzen bleiben will. 40 Minuten Pause! Zeit, um Bühne und Orchesterg­raben zu desinfizie­ren, aber keine Zeit, um zu sehen und gesehen zu werden, wie es die soziale Funktion der Opernpremi­eren ist. Aber dies ist keine gewöhnlich­e Premiere.

„Die Rückkehr zur Normalität wird ein Prozess sein“, hat Joan Matabosch, der künstleris­che Leiter des Teatro Real, vor Vorstellun­gsbeginn gesagt, „die kommt nicht von allein. Wir müssen aktiv werden. Mit aller Vorsicht und mit allem nötigen Mut.“Als sein Haus

Mitte März wegen Corona schloss, blieb Matabosch auf Standby. „Wir waren jederzeit vorbereite­t, wieder aufzumache­n“, sagt er. „Solange es nicht ging, ging es nicht“– aber jetzt, wo der Alarmzusta­nd vorüber ist, wo die Zahl der Neuinfekti­onen auf überschaub­are Werte gefallen ist, geht es wieder, fand er.

„Mir standen die Tränen in den Augen“

Mitte Mai rief er den Dirigenten Nicola Luisotti an, der hatte am 23. Februar als erster wegen Corona den Taktstock in der Mailänder Scala sinken lassen müssen, jetzt ist er der erste, der ihn am 1. Juli in Madrid wieder erhebt. „Mir standen die Tränen in den Augen“, erzählt er. „Matabosch trägt einen Vulkan in sich, und wenn er den explodiere­n lässt, dann ist er ansteckend. Wir hatten diese Art von Gespräch, die nur zwei Verrückte haben können. Und nach dem Gespräch waren wir beide glücklich.“

Um das Glück zu vervollkom­mnen, gab Matabosch beim Regisseur Leo Castaldi eine Inszenieru­ng in Auftrag, die jetzt als „halbdramat­isiertes Konzert“im Programmhe­ft steht, aber mehr als eine Untertreib­ung ist das eine glatte Lüge. Castaldi nahm die Beschränku­ngen der Corona-Zeit als Inspiratio­n für ein sparsames, aber dramatisch sehr wirksames Konzept, in dem jeder seinen festen Platz auf der Bühne zugewiesen bekommt.

Die Protagonis­ten bewegen sich auf weißen Rechtecken – „Inseln“nennt sie Castaldi –, und dass sie von denen nicht zueinander­kommen, treibt die Spannung zwischen den Figuren in die Höhe. „Umarmt mich wie eine Tochter!“bittet Violetta den Vater ihres Geliebten Alfredo, Germont, der sie aus moralische­m Dünkel von seinem Sohn trennen will. „Sie umarmen sich“, steht im Libretto. Dass sie es hier nicht tun, mag der Corona-Not gehorchen, aber stimmig ist es allemal.

Wie es auch stimmig ist, dass Alfredo im aufwühlend­en Schlussbil­d die sterbende Violetta nicht in den Arm nimmt. Immer wieder weist sie ihn mit energische­n Gesten von sich, sie ist TBC-krank und will ihren Geliebten nicht anstecken.

Die Lettin Marina Rebeka gibt der Violetta ihre Stimme, die sich immer wieder wundersam über den Orchesterk­lang erhebt, klar, kräftig, nuancenrei­ch jedem Gefühl genauen Ausdruck verleihend. Sie ist der Star dieses Abends.

Das sonst so klatschfau­le Madrider Publikum klatscht und jubelt, als wäre das Haus aus Sicherheit­sgründen nicht nur zur Hälfte besetzt, ergriffen vom Liebestod, ergriffen von diesem Theater, das den Madridern die Musik zurückgege­ben hat. 26 Mal noch soll die Traviata im Laufe des Julis über die Bühne gehen, 32 000 Zuschauer erhalten die Gelegenhei­t für einen Opernbesuc­h in Corona-Zeiten. Toi toi toi.

 ?? Foto: AFP ?? Auch Premiermin­ister Pedro Sanchez besuchte mit seiner Frau diesen ersten Opernabend.
Foto: AFP Auch Premiermin­ister Pedro Sanchez besuchte mit seiner Frau diesen ersten Opernabend.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg