Vor dem Abgrund
Suizidrisiko in Corona-Zeiten: Verhaltensveränderungen und Anzeichen von Depression gelten als Alarmsignale
Zieht sich eine Person immer mehr zurück, sollten Angehörige reagieren. François D'Onghia, Psychologe
Luxemburg. Suizid ist nach wie vor ein Tabuthema, das gleichzeitig die Menschen aber auch sehr bewegt. So wurde in den vergangenen Wochen – vor allem in den sozialen Netzwerken – explizit über Suizidfälle oder -versuche gesprochen. Zahlreiche Nutzer ließen dort ihrer Wut und Trauer freien Lauf. Viele sahen in den rezenten Vorfällen eine Verbindung zur Pandemie. Experten können das derzeit nicht bestätigen.
Statistisch gesehen, sterben in Luxemburg jährlich etwa zweimal mehr Menschen durch Suizid als im Straßenverkehr. 2016 und 2017 lag die Zahl der Opfer bei etwas mehr als 60 Fällen pro Jahr. Für 2018 und 2019 sowie für die Zeit während der sanitären Krise liegen noch keine offiziellen Zahlen vor. François D'Onghia, Psychologe und Direktor des Präventionsdienstes der Ligue luxembourgeoise d'hygiène mentale (D'Ligue), erklärt: „Tendenziell ist die Zahl der Suizide in den letzten Jahren am Sinken. Luxemburg liegt mit weniger als zehn Fällen pro 100 000 Einwohner unter dem europäischen Durchschnitt. Doch die Aufarbeitung der Suizidzahlen nimmt viel Zeit in Anspruch. Demnach können wir auch nicht sagen, ob es während der Krise mehr oder weniger Fälle gegeben hat.“
Die Folgen der Pandemie
Bei etwa drei Viertel aller Suizidfälle, so D'Onghia, hatten die Betroffenen zuvor mit Depressionen zu kämpfen, bei einem Viertel waren Psychosen nachzuweisen. In einer Zeit, in der die Bevölkerung versucht, sich von den Folgen der Pandemie zu erholen, sich jedoch weiterhin von dieser bedroht fühlt, sei das Risiko, Angststörungen zu entwickeln oder an Depressionen zu leiden also durchaus nachvollziehbar, meint der Psychologe.
Wie aus einer am Donnerstag veröffentlichten Studie des nationalen Statistikamts Statec hervorgeht, soll sich seit Beginn der sanitären Krise der psychische Zustand
von rund einem Drittel der hiesigen Einwohner verschlechtert haben. Vor allem die wirtschaftlichen Folgen würden einen negativen Einfluss auf die mentale Gesundheit der Bevölkerung ausüben, heißt es in dieser Studie.
Das weiß auch François D'Onghia. Nun gelte es, vor allem die Zeit nach der Krise abzuwarten. „Die kommenden sechs Monate werden zeigen, wie sehr die Folgen der Corona-Pandemie die Menschen belasten. Es wurde bereits mehrmals statistisch belegt, dass, wenn die Arbeitslosenzahl steigt, auch die Depressionen und Suizidfälle steigen. Das bereitet uns natürlich Sorgen“, sagt der Psychologe.
Etwas außergewöhnlich sei aber gewesen, dass während des Lockdown nur sehr wenige Menschen sich bei der Suizid-Präventionsstelle der Ligue gemeldet haben. „In zwei Monaten haben wir maximal zehn Anrufe erhalten. Normalerweise sind es ein bis zwei am Tag. Das ist schon komisch gewesen. Natürlich kann es sein, dass sich Betroffene bei anderen Hilfsstellen gemeldet, oder gar Fragen über die Covid-19-Hotline gestellt haben. Vielleicht hat es den Betroffenen aber auch geholfen, dass wir alle im selben Boot saßen und mit den gleichen Ängsten zu kämpfen hatten“, so der Experte.
Jeder Fall ist ein Fall zu viel
Es müsse – nicht nur in Hinsicht auf die Pandemie, sondern ganz allgemein – noch mehr Präventionsarbeit geleistet und an der Enttabuisierung des Themas gearbeitet werden. Denn vor allem die Anzahl an Selbstmordversuchen sei immer noch beunruhigend. „Geschätzt gibt es 20-mal mehr Versuche als tatsächliche Suizidfälle. Das bedeutet, dass in Luxemburg in einem Jahr etwa 1 200 Selbstmordversuche stattfinden. Gegen dieses Phänomen wollen und müssen wir ankämpfen“, so D'Onghia.
Es gilt also weiterhin, auf Warnsignale zu achten. Verändert sich plötzlich das Verhalten eines Betroffenen, sollten Familie, Freunde und Kollegen schnellstmöglich reagieren. „Zieht sich die Person immer mehr zurück, oder verändert sie ihre alltäglichen Handlungen, sollte sich der Gegenüberstehende Gedanken machen und sich nach dem Wohlbefinden der Person erkundigen“, rät D'Onghia und betont: „Es ist immer besser nachzufragen, anstatt, aus Angst jemanden zu verletzen, nichts zu tun. Man darf sich nicht vor Fragen wie ,warum geht es dir denn nicht gut‘, oder ,hast du schon daran gedacht, dir das Leben zu nehmen‘ scheuen. Im Zweifelsfall sollten Betroffene und Angehörige stets professionelle Hilfe aufsuchen.“
Suizidprävention an Schulen
Als besonders gefährdet gelten weiterhin Senioren über 80 Jahre – bei ihnen liegt die Suizidrate am höchsten. „Oftmals verlieren diese Menschen ihre Autonomie und kommen mit dieser Situation nicht klar“, meint der Psychologe.
Bei jüngeren Menschen bis 25 Jahre sei die Gefahr nicht so hoch, allerdings gebe es auch in dieser Alterskategorie immer wieder Todesfälle zu verzeichnen – etwa sechs bis acht Suizidfälle pro Jahr, wie Bildungsminister Claude Meisch (DP) Mitte Mai in einer Antwort auf eine parlamentarische Frage des Abgeordneten Marco Schank (CSV) erklärte. In dieser erwähnte der Minister auch, man wolle nun stärker in Schulungen für das Lehrpersonal investieren, um so die Präventionsarbeit an Schulen zu fördern. Die Nachfrage an diesen Fortbildungen sei derzeit größer als das Angebot.
Eine Sekundarschule, die sich ganz stark mit dem Thema Prävention auseinandersetzt, ist der Lycée des arts et métiers (LTAM) in Limpertsberg. Nachdem sich in einem Jahr mehrere Schüler aus unterschiedlichen Schulen – darunter auch aus dem LTAM - das Leben genommen haben, reagierte die Direktion mit einem Präventionsprojekt. „Seit diesem Schuljahr haben 7e-Klassen – künftig kommen noch weitere Klassen hinzu – wöchentlich eine CoachingStunde, bei der über Themen wie mentale Gesundheit oder Stressbewältigung gesprochen wird. Eine weitere Stunde wird den sozialen Medien gewidmet“, erklärt Fabrice Roth, Direktor des Lyzeums.
Ziel sei es, dass Schüler lernen, schwierige Situationen selbst zu erkennen und möglicherweise zu bewältigen. Auch soll somit die Rücksicht auf andere gestärkt werden. „Über die Probleme der Gesellschaft sollte offen gesprochen werden, nur so können diese überwunden werden“, so Fabrice Roth.