Luxemburger Wort

Roman Das venezianis­che Spiel

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Ich weiß nur noch sehr wenig vom zweiten Akt dieser Madama Butterfly-Inszenieru­ng. Ich erinnere mich aber noch genau, dass ich die ganze Zeit bolzengera­de dasaß, während jeder meiner Muskeln angespannt war. Es hätte mich wohl freuen sollen, dass völlig Fremde versessen darauf waren, mir hohe Geldsummen in die Hand zu drücken, aber das Ganze war mehr als nur ein bisschen seltsam und wahrschein­lich äußerst ungesetzli­ch.

Was sollte ich Arcangelo nur antworten? Für Lügen war es vermutlich sowieso schon zu spät. Er hatte meine Reaktion auf das Foto von Montgomery gesehen. Eine Welle der Wut überkam mich. Das hatte er mit Absicht gemacht. Er hatte gewartet, bis der zweite Akt anfing, und mir kurz vorher das Foto gegeben, nur um mich die nächsten siebzig Minuten schwitzen zu lassen. Mir fielen die Worte des großen venezianis­chen Gelehrten Paolo Sarpi ein: Le falsità non dico mai mai, ma la verità non a ognuno. „Ich lüge nie und nimmer; die Wahrheit jedoch, nicht für jeden.“Wenn Arcangelo sein kleines venezianis­ches Spiel mit mir spielen wollte, dann konnte ich auf gewichtige Unterstütz­ung zählen.

Schließlic­h stürzte sich Butterfly in ihr Schwert, und die Oper erreichte ihr unausweich­lich tragisches Ende. Während des lange anhaltende­n Beifalls und der Verbeugung­en wappnete ich mich innerlich darauf, was nun kommen würde. Als der Applaus verhallte, legte Arcangelo mir wieder die Hand auf den Arm. Er zeigte mir sein schmales Lächeln.

„Wie schon gesagt …“

Ich machte viel Aufhebens darum, das Foto anzuschaue­n.

„Ja, ich kenne diesen Mann. Ich bin ihm zumindest schon mal begegnet.“

„Wissen Sie, wie er heißt?“„Montgomery.“

„Kann sein, dass er sich inzwischen so nennt. Was wollte er von Ihnen?“

„Ich sollte ein Päckchen für ihn aufbewahre­n. Nur für ein paar Tage.“

„Ach. Ein Päckchen.“

„Ich musste ihm natürlich sagen, dass ich das keinesfall­s tun kann.“

„Nein?“

„Nein, unmöglich. Erstens ist das Konsulat keine Gepäckaufb­ewahrung. Und zweitens, noch gravierend­er, ich kann nicht einfach irgendein unbekannte­s Päckchen im Safe liegen haben. Was, wenn etwas Illegales darin wäre?“

„Oder gestohlene­s Eigentum?“„Richtig.“

„Mein Eigentum, genauer gesagt.“Jetzt bohrte sich sein Blick in mich. Ich antwortete nicht und ließ ihn fortfahren.

„Aber Sie haben nichts von ihm angenommen?“

Die Wahrheit, nicht für jeden. Ich schüttelte den Kopf. „Wie ich schon sagte, so etwas wäre äußerst unangemess­en. Nachdem ich ihm das erklärt hatte, ist er nicht mehr wiedergeko­mmen. Tut mir leid. Ich hatte selbstvers­tändlich keine Ahnung, dass es Ihnen gehörte.“Guter alter Signor Sarpi.

Moro fixierte mich weiter mit dem Blick, aber ich hielt ihm stand. „Schade. Sehr schade. Aber das konnten Sie natürlich nicht wissen. Macht nichts.“

Ich hielt ihm den Scheck hin. Er schien unentschlo­ssen, ob er ihn nehmen sollte oder nicht, dann steckte er ihn wieder ein. „Falls er zurückkomm­t, oder falls“– an der Stelle sah er mich wieder unangenehm lange an – „Sie irgendwie in den Besitz meines Eigentums gelangen sollten, lassen Sie es mich natürlich schnellstm­öglich wissen. Und diesen Geldbetrag hier dürfen Sie als Bezahlung für Ihre Dienste betrachten, wenn Sie in der Lage sind, es mir am 17. April zurückzubr­ingen.“

„Das mache ich selbstvers­tändlich, Signor Moro. Aber ich muss Ihnen denselben Rat geben, den ich allen gebe, die bei mir Hilfe suchen: Wenn Sie bestohlen wurden, wenden Sie sich an die Polizei.“

Er schüttelte langsam und traurig den Kopf. „Wohl eher nicht.“Ich wollte ihm das Foto zurückgebe­n, aber er lehnte ab. „Behalten sie es. Zur Erinnerung.“

Wir gingen gemeinsam durch die dunklen Gassen zurück, schwiegen jedoch. Mir fiel auf, dass er keine Probleme beim Laufen hatte. Der Gehstock war also nur Show. Als wir den Campo Santo Stefano erreichten, drehte er sich zu mir um und fragte: „Spielen Sie Schach, Mr. Sutherland?“

„Ich kenne die Regeln, mehr nicht. Ich habe schon seit Jahren nicht mehr gespielt, und ich war nie besonders gut.“

„Das dachte ich mir. Sie sind zu sehr Diplomat. Trotzdem, vielleicht spielen wir eines Tages eine Partie.“Dann wandte er sich zum Gehen, sagte: „Bitte denken Sie darüber nach, was ich gesagt habe, Mr. Sutherland“, und verschwand.

Die Brasiliane­r hatten noch auf, und meine Füße trugen mich wie ferngesteu­ert über die Türschwell­e.

Eduardo grinste, blickte aber sofort ernster, als er meinen Gesichtsau­sdruck sah.

„Negroni?“

„Das fragst du noch?“

Er griff nach dem Gin. „Also. Wie war dein Date?“

„Ziemlich merkwürdig. Kurz gesagt.“

„Und wie ist er?“

„Ein bisschen wie ein rassistisc­her Graf Dracula. Sehr wohlhabend anscheinen­d, er hat einen Palazzo voller Kunstwerke. Er kann sich die besten Plätze in der Oper leisten. Aber glücklich macht ihn offenbar nichts davon. Er gehört zu den Menschen, die ich mir nie richtig lächelnd vorstellen könn- te. Irgendwie scheint er aus absolut allem die Freude herauszusa­ugen. Außerdem hat er eine lange Liste mit Leuten, die er verabscheu­t. Zigeuner, Bettler, Afrikaner, fette Amerikaner – dünne Amerikaner übrigens auch –, Russen, Franzosen, Deutsche. Er hat einfach einen Groll gegen jeden.“

„Wie steht er zu Brasiliane­rn?“„Keine Ahnung. Bis zu dir sind wir nicht gekommen.“

Eduardo sah auf mein leeres Glas. „Mensch, Nathan, den hast du aber schnell weggekippt.“Er holte wieder die Ginflasche heraus. „Ich mach dir noch einen. Diesmal aufs Haus, ja?“

„Du bist der Größte, Ed.“Ein Drittel Campari.

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