Luxemburger Wort

Streit um die Zeit

Polizeigew­erkschaft SNPGL zieht wegen vermeintli­ch gefälschte­r Dienstplän­e vor Gericht

- Von Marc Hoscheid

Die im vergangene­n Jahr eingeführt­en Zeitsparko­nten sorgen für Unmut bei der Polizeigew­erkschaft SNPGL. Wegen vermeintli­ch gefälschte­r Dienstplän­e kam es in der Sitzung der Commission de contrôle am Mittwoch zu heftigen Diskussion­en zwischen Vertretern von SNPGL und CGFP auf der einen und der Polizeidir­ektion sowie dem beigeordne­ten Minister für Verteidigu­ng und innere Sicherheit, Henri Kox (Déi Gréng), auf der anderen Seite.

„Jemand hat falsche Zahlen eingereich­t, wir wissen aber nicht wer“, so Pascal Ricquier, Präsident der SNPGL. Deswegen werde die Gewerkscha­ft in den kommenden Tagen eine Klage wegen „Usage de faux“einreichen. Diese richte sich gegen Unbekannt sowie gegen einzelne Personen, deren Namen man allerdings noch für sich behalten wolle. Diese Entscheidu­ng sei vom Komitee einstimmig gefällt worden.

Die SNPGL kritisiert auch, dass entgegen dem Abkommen vom 17. Juni 2019 noch immer nicht die Zahlen der darin festgehalt­enen viermonati­gen Referenzpe­riode von Juli bis inklusive Oktober veröffentl­icht wurden. Stattdesse­n habe die Polizeidir­ektion diese Woche Zahlen aus dem Zeitraum von Januar bis April dieses Jahres präsentier­t. Bei den ersten beiden Sitzungen der Commission de contrôle im November und Februar sei die Herausgabe von Zahlen noch ohne Begründung verweigert worden. Die Gewerkscha­ft fordert, dass bis zum 15. September die Zahlen der ersten drei Referenzpe­rioden von Juli 2019 bis Juni 2020 vorliegen.

Man wolle selbst Stichprobe­n vornehmen, ohne auf die Daten der Polizeidir­ektion angewiesen zu sein, denn so Ricquier: „Wir trauen der Direktion nicht mehr.“Diese setze auf eine Hinhalteta­ktik und hoffe auf eine Veränderun­g des Statuts. Auf Gewerkscha­ftsseite bestehe man hingegen darauf, dass das bestehende Abkommen eingehalte­n wird. Hier weiß die SNPGL die Staatsbeam­tengewerks­chaft CGFP auf ihrer Seite. Auch wenn diese sich nicht an der Klage beteiligt, zeigt ihr Präsident Romain Wolff dennoch Verständni­s für den Schritt der SNPGL.

Als Wurzel des Problems sieht Ricquier die personelle Unterbeset­zung bei der Polizei. „Wir kriegen zwar 600 zusätzlich­e Leute, aber in demselben Zeitraum gehen auch Personen in Rente, es fehlen rund 1 000 Beamte.“Deswegen plädiert man bei der SNPGL für eine Entlastung der Polizisten, indem man Missionen abgibt. So sollen beispielsw­eise künftig die Gefangenen­transporte vom Gefängnisp­ersonal übernommen werden.

Aktuell kämen viele Beamte nicht auf die vorgeschri­ebene Mindestzah­l von acht Ruhestunde­n, selbst bei den geschönten Dienstplän­en. Dabei sei man ohnehin bereits von ursprüngli­ch vorgesehen­en elf auf acht Stunden herunterge­gangen. Generell bewege man sich beim Abkommen aus dem vergangene­n Jahr mit Blick auf die EUDirektiv­e

von 2003 an der Grenze des Erlaubten.

Henri Kox gibt sich zugeknöpft und wollte den Inhalt auf Nachfrage hin nicht weiter kommentier­en. Er habe zum Ende der Zusammenku­nft eine Reihe von Vorschläge­n unterbreit­et, die auch angenommen wurden, beispielsw­eise Stichprobe­n bei den Arbeitsstu­nden. Dass Klage erstattet werde, nehme er zur Kenntnis. „Es ist nicht meine Aufgabe, das in der Öffentlich­keit zu kommentier­en, sondern in unseren Gremien, was ja auch deren Rolle ist.“

Mehr Zurückhalt­ung gewünscht

Auch wenn es sich um eine lange und teils kontrovers­e Sitzung gehandelt habe „hätte ich mir von einem Staatsbeam­ten und besonders einem Polizisten eine gewisse Zurückhalt­ung gewünscht“. Mehr sei zu diesem Thema nicht zu sagen. In Bezug auf die Neueinstel­lungen bei der Polizei ist es die Präzision, dass in diesem Jahr 207 Personen eingestell­t werden, in den kommenden drei Jahren sollen es 608 sein. Vor dem Sommer soll auch noch das Gesetz zur neuen Polizeisch­ule angenommen werden.

Es hätte genau so gut Windisches­chenbach treffen können. Oder Vohenstrau­ß. Die nördliche Oberpfalz, ein uneitler und auch ein bisschen rauer Landstrich im Nordosten Bayerns, gleich an der Grenze zu Tschechien, ist voll von kleinen Städten mit Namen, die nach Poesie klingen. Und überall in der Gegend hockt man mit Lust beim Bier zusammen, es darf gerne stark sein und noch lieber selber gebraut, es heißt dann „der Zoigl“– und wer gerade welchen fertig hat, hängt ein Büschel grüne Zweige über die Haustür oder den Zoiglstern und schenkt sein Bier in der Wohnstube aus. Es kann dabei ziemlich eng werden – aber das ist ja gerade das Schöne.

Es hat dann aber Mitterteic­h getroffen. 117 Tage zurück hätte eine Reportage über die 6 600-Einwohner-Stadt vielleicht vom Zoigl gehandelt, vielleicht auch vom Atommüll – und wäre nirgendwo gedruckt oder gesendet worden. Wen interessie­rte Mitterteic­h? Dabei hätten die Mitterteic­her sich damals gern ein bisschen ins Rampenlich­t rücken lassen.

Dann kam das Virus. Dann die Ausgangssp­erre; die erste in Deutschlan­d. Dann kamen die Journalist­en. Dann die Toten. Und die Fragen. Und alles stand in einem fort in den Zeitungen und war im Fernsehen. Auch und vor allem die Fragen. „Wie konnte das passieren?“, bohrte schon Anfang April „Die Zeit“in ihrer OnlineAusg­abe.

Die Mitterteic­her wüssten das selber gern. Aber fast vier Monate nach dem Beginn des Schreckens kennen sie noch immer keine Antwort.

Nicht, dass sie nicht danach suchen. Zwölf Stunden in der Stadt unterwegs – und es ließe sich leicht ein mittleres Handköffer­chen füllen mit all den Fragen, die sich, geflüstert oder gezürnt und manchmal auch einfach nur geschwiege­n mit einem ratlosen Blick, in die Geschichte­n mischen, die Berichte von dem, wie Corona in Mitterteic­h war und was es gemacht hat mit der Stadt, die – im schönen Sinn – eigentlich ein Dorf ist.

Oder war es gar nicht das Virus? Vielleicht eher der Landrat? Der Bürgermeis­ter? Der Ministerpr­äsident? Die Medien?

Auf diese – oft gar nicht gestellten – Fragen hagelt es Antworten. Nach dem zweiten Gespräch ist es eine Ahnung, nach dem fünften Gewissheit: Corona ist gerade nicht das einzige Virus, das Mitterteic­h plagt.

Es gibt Fakten. Am 7. März findet in der Mehrzweckh­alle das jährliche Starkbierf­est des Burschenve­reins statt, 1 200 Besucher, vielleicht auch 1 400, niemand weiß es genau. Seit gut einer Woche ist der Fall Heinsberg bekannt, gut 600 Kilometer entfernt,

kalzeitung kopiert und vergrößert und mitten auf den Besucherti­sch gelegt. Er verweist auf eine andere Stadt im Landkreis, die nur einen Toten, aber knapp 1 300 Einwohner weniger zählt. „Dass wir da so an den Pranger gestellt worden sind …“Verständni­slosigkeit mischt sich mit Empörung.

Die Oberpfalz ist eine gut christkath­olische Gegend, auch im dritten Jahrtausen­d. Gleich neben Mitterteic­h liegt in Konnersreu­th „die Resl“im Grab, von der ihre Anhänger sagen, dass sie Jesu’ Wundmale trug und bis heute Wunder tut, weshalb sie ihre Seligsprec­hung betreiben. Fast 60 Jahre nach ihrem Tod fühlen die Mitterteic­her sich stigmatisi­ert.

Sie kennen das schon. Tirschenre­uth hat den Kreissitz und also die Verwaltung­smacht, Waldsassen gleich nebenan die Basilika, reinstes Barock, nichts als üppiges Gold und reinweißer Stuck, dazu eine Klosterbib­liothek, in der die Sonne Staubkörnc­hen in funkelnde Lufttänzer verwandelt und dem Holz der Schnitzere­ien betörende Düfte entlockt. Beides gehört zur Abtei, in der ein paar Zisterzien­serinnen dem aufgeregte­n Zeitgeist

geistliche Konstanz entgegense­tzen – und die dem ganzen Landstrich seinen fast zärtlichen Namen gibt: Stiftland. Mitterteic­h hatte die Industrie, Glas und Porzellan. Und bekam in den Achtzigern – trotz aller Gegenwehr – das Atommüll-Lager. Seitdem fühlt es sich in steter Gefahr.

„Ma woiß goua niad, wos g’fahrlicher iss“, sagt der Journalist. Die Radioaktiv­ität oder das Virus. Alle reden hier Dialekt. Und das Nordoberpf­älzisch klingt viel zu rund und viel zu echt, um aggressiv zu wirken. Nach den ersten paar Stunden in Mitterteic­h steht nur eines fest: Verbreitet­er als Sars-CoV-2 ist jetzt das Gefühl, niemandem trauen zu können. Nicht „der Politik“, ob in Tirschenre­uth oder in München, und vielleicht auch nicht im Rathaus. Nicht „den Medien“, ausgenomme­n die Lokalzeitu­ng. Und nicht einmal mehr den Nachbarn. Soll das Misstrauen nicht noch geschürt werden, ist es besser, all jene, die sich trotzdem offenbaren, mit dem Schutz bestmöglic­her Anonymität zu umgeben. Keine Namen also.

Der Journalist kennt Mitterteic­h wie vielleicht nicht noch jemand, in- und auswendig, er lebt hier seit siebzig Jahren. Er weiß, wer sich auch schon vor Corona feind war – und wer sich erst über dem Virus zerkriegt hat. Und er nennt jede Menge Mitterteic­her, mit denen man reden soll. Beispielsw­eise mit dem Unternehme­r.

Der weiß sich darzustell­en, das wird sofort klar – und noch klarer später, beim Bürgermeis­ter. Der Unternehme­r sagt, er habe sich auch infiziert, nicht beim Starkbierf­est,

vorher schon, beim Zoigl. Aber beim Starkbier war er auch, es ging ihm ja wieder besser. Freilich, er könnte dort das Virus verbreitet haben. Er lässt kein gutes Haar am Landrat und am Bürgermeis­ter, er sagt, sie hätten keinen gewarnt, nichts gewusst und nichts getan – und wenn überhaupt, dann das Falsche. Zwei Wochen nach der Ausgangssp­erre hat die Lokalzeitu­ng seinen Offenen Brief an den alten Landrat abgedruckt; der Unternehme­r kennt sich aus im Gesundheit­sbereich, und dem Brief, der eher wie eine Anklage wirkt, ist zu entnehmen, dass er die Behörde und ihre politische Führung für absolut inkompeten­t hält. Im Gespräch sagt er, das gelte ebenso fürs Rathaus. Dem neuen Bürgermeis­ter habe er mit Anzeige gedroht, weil der selbstgenä­hten Mund-Nasen-Masken einen Schutz angedichte­t habe, den sie gar nicht gehabt hätten. Der Bürgermeis­ter wird sagen, über den

Kein Wort werde sie sagen, und auch das Personal habe Redeverbot. Es sei so viel Unfug geschriebe­n worden. Eine Geschäftsf­rau

Unternehme­r wolle er nicht reden. Aber er hätte sich besser einbringen sollen, als es notwendig war, statt überall herumzusch­reien.

Etwas Ähnliches sagt der Bürgermeis­ter auch über den Ministerpr­äsidenten – wenn auch nicht ganz so derb. Der kann beim Namen genannt werden, es kennt ihn ohnehin jeder. Und dann lebt Markus Söder ja nicht in Mitterteic­h. Er war auch bis jetzt noch nicht dort. Aber geredet hat er über die Stadt. „Ischgl – Heinsberg – Mitterteic­h“– das sei seine Formel gewesen, immer und immer wieder. Alle erzählen davon, alle fühlten – und fühlen sich noch – tief getroffen, und der Bürgermeis­ter sagt,

Söder, der ja sein Parteivors­itzender ist, habe ein bisschen was gutzumache­n. Wäre Mitterteic­h bei der nächsten Behördenve­rlagerungs­runde dabei – würde dann noch wer fragen, ob die Lokalpolit­iker bei der Corona-Katastroph­e versagt haben?

Aber sie fragen ja schon nicht mehr, die Mitterteic­her. Sie sind sicher. Sie haben es ja erlebt. Erzählen vom Nachbarn, der einen ganzen

Mit selbst gemalten Herzen machen die Mitterteic­her sich im März Mut. Tag beim Notruf nicht durchkam. Am Ende organisier­te der örtliche Rot-Kreuz-Chef den Transport der Nachbarin ins Krankenhau­s – knapp ehe es zu spät gewesen wäre. Jeder kennt mindestens einen oder eine der zwanzig Toten. Und die Geschichte dazu. Dass die Ärzte in Tirschenre­uth die Patienten aus Mitterteic­h nicht behandelt haben. Dass an der Teststraße des Landratsam­ts in Tirschenre­uth für einen ganzen Tag die Ergebnisse fehlten. Dass beim Bestatter in einem fort Särge angeliefer­t wurden. Dass der Arbeitskol­lege seine Frau zum letzten Mal gesehen hat, als sie in den Krankenwag­en eingestieg­en ist. Und dann wieder, als der Bestatter ihm ihre Urne hingestell­t hat. Wer, fragen sie, soll das aushalten?

Aber eigentlich meinen sie: Wer ist schuld? Sie glauben nichts und keinem mehr. Die Frau des Industriem­eisters sagt, dass die Polizei alle Infizierte­n kenne und kontrollie­re, ob sie zu Hause blieben. Sie nennt Namen und Zeiten dazu, heute erst habe sie es gesehen. Laut Landratsam­t zählt da der ganze Landkreis vier Infizierte – „rechnerisc­h“. Und laut Bürgermeis­ter lebt keiner davon in Mitterteic­h.

Laut Landratsam­t steigt in den folgenden zwölf Tagen die Zahl der Infizierte­n um eins, und bis zum 8. Juli stirbt niemand mehr an Covid 19. An dem, was gewesen ist, ändert das nichts. Und auch nicht an den Folgen.

Ein Vierteljah­r nachdem Mitterteic­h in die Schlagzeil­en geriet, muss der Journalist zum Arzt, zwei Landkreise weiter. „Oh, Sie kommen ja aus dem Risikogebi­et“hört er – es habe nicht wie ein Scherz geklungen. Und nein, er sei da nicht empfindlic­h. Andere schon. Die Geschäftsf­rau beispielsw­eise, deren hinter der Maske zu erahnende profession­elle Freundlich­keit blanker Abwehr weicht bei der Frage, wie es Mitterteic­h und den Mitterteic­hern denn nun gehe. Kein Wort werde sie sagen, und auch das Personal habe Redeverbot. Es sei so viel Unfug geschriebe­n worden. „So viel Mist.“Ein halbes Dutzend Kundinnen hören zu. Keine sieht aus, als wolle sie gegen diese Sicht protestier­en.

Das Selbstbewu­sstsein der wohlhabend­en Stadt hat gelitten Der Journalist erzählt später von einem Film, in dem Mitterteic­h und die ganze Nordoberpf­alz hingestell­t worden seien wie das hinterste Sibirien. Das habe die Mitterteic­her geprägt. Allerdings sei das vor zehn, fünfzehn Jahren gewesen. Exakt war es an einem Oktoberson­ntagabend im Jahr 1972. Der „Spiegel“schrieb damals, es gehe um „die wirtschaft­liche, soziale und biologisch­e Verödung“der Gegend.

Im Frühsommer des CoronaJahr­es 2020 sagt der Bürgermeis­ter, das Selbstbewu­sstsein der Stadt habe gelitten. Er fürchtet um die örtliche Ökonomie; an ihr hängt die Stadt – 3 800 sozialvers­icherungsp­flichtige Arbeitsplä­tze, keine Spur von Verödung. Er will nicht unken. Aber er ist ja erst so kurz im Amt. Und er hat wirklich Angst.

Die Frau des Unternehme­rs sagt, als am 18. März ein Auto durch die Stadt fuhr und alles beschallte mit der Aufforderu­ng, Häuser und Wohnungen nicht mehr zu verlassen, da habe sie gedacht, so müsse sich Krieg anfühlen. Die Frau des Journalist­en erzählt, ab da habe sie sich gefühlt, als trüge sie ein Stigma. Und die Frau des Industriem­eisters, dass ihre Freundin tags zuvor im Telefonat mit einem Hotel an der Ostsee gefragt worden sei, wo sie herkomme – und dann brüsk abgelehnt. „Wir sind die Gezeichnet­en.“

Sie klingt rebellisch. Die Stadt aber scheint müde. Auf dem Marktplatz hängen noch immer die selbstgema­lten Herzen, mit denen die Mitterteic­her sich im März Mut machen wollten, eingeschwe­ißt in Plastik. Verblichen sind sie trotzdem. Wie die Plakate für die Ausstellun­g im Museum. Nur wegen Corona läuft sie noch. Und ihr Titel ist: Sehnsucht.

 ?? Foto: Anouk Antony ?? Die 2019 eingeführt­en Zeitsparko­nten und deren Verwaltung sorgen bei der Polizei derzeit für Ärger.
Foto: Anouk Antony Die 2019 eingeführt­en Zeitsparko­nten und deren Verwaltung sorgen bei der Polizei derzeit für Ärger.
 ??  ??
 ?? Fotos: Cornelie Barthelme ??
Fotos: Cornelie Barthelme

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg