Der Schock droht in Wut umzuschlagen
Bei seinem Besuch im verwüsteten Beirut verlangt der französische Staatschef Macron ein Ende der Korruption
„Libanon ist nicht allein“, twitterte Emmanuel Macron nach seiner Ankunft in Beirut. Im Mittelpunkt seiner Visite, betonte er, stehe die Unterstützung der nach der Explosion von 2 750 Tonnen Ammoniumnitrat schwer traumatisierten Bevölkerung. Der französische Staatschef wirkte sichtlich geschockt, als er mit vorsichtigen Schritten durch den verwüsteten Beiruter Hafen ging. Bis zu 100 Menschen, befürchtet das libanesische Rote Kreuz, könnten noch unter den Trümmern liegen.
Frankreich, die frühere Kolonialmacht im Libanon, will „allumfassend helfen“. Daran ließ Macron gestern in Beirut keinen Zweifel.
Ohne Reformen wird Libanon weiter versinken. Emmanuel Macron
Genauso unmissverständlich war aber auch seine politische Botschaft. „Ohne Reformen“, hatte Macron bereits am Flughafen klargestellt, „wird Libanon weiter versinken“. Erst wenn die Korruption aufhöre, könne es wieder aufwärts gehen, sei ein „Vertrag für den Wiederaufbau des Libanons“möglich.
Der französische Staatschef sprach damit den meisten Libanesen aus dem Herzen. Seit mehreren Jahrzehnten hoffen sie auf einen umfassenden Wandel. Hunderttausende waren dafür auf die Straßen gegangen. Doch dann kam Corona und die Protestwelle verebbte. Es folgte der dramatische Kursverfall der Lira sowie als vorläufiger Negativhöhepunkt die Apokalypse im Beiruter Hafen, die 300 000 Libanesen obdachlos machte.
Regierungsversagen
Doch resignieren – und auch diese Botschaft wurde Macron gestern vermittelt – kommt für die meisten Libanesen nicht in Frage. „Da die Regierung versagt“, sagte eine Beiruter Medizinstudentin einem französischen Fernsehreporter, „werden wir die Dinge wohl selbst in die Hand nehmen müssen“. In Mar Mikhael und Gemmayze, den schwer verwüsteten Szenevierteln unweit des Hafens, haben sich junge Libanesen zu Arbeitsbrigaden zusammengeschlossen. Engagiert kehren sie Millionen von Glasscherben zusammen, verladen abgerissene Aluminiumverkleidungen und Wrackteile von Autos auf Laster und Pritschenwagen.
Andere klettern die mit Schutt übersäten Treppenhäuser hinauf, um noch immer eingeschlossene ältere Menschen mit Lebensmitteln zu versorgen oder in Bergdörfer zu evakuieren. Die Welle der Solidarität ist gewaltig. Das war in Krisenzeiten im Libanon schon immer so. Die Bevölkerung hält zusammen, weil sie weiß, dass sie von der Regierung nichts zu erwarten hat.
In den Elan der Freiwilligen mischt sich aber auch zunehmend