Eine existenzielle Frage
Nach der Katastrophe im Hafen von Beirut muss sich der Libanon neu erfinden
Der krisengeschüttelte Libanon steht vor einem existenziellen Problem, das ihn endgültig überfordern könnte. Das Nahostland muss die Verwundeten pflegen, deren Zahl die Kapazitäten der Krankenhäuser übersteigt. Dann muss es trotz riesiger Schulden sehr schnell die verwüstete Stadt wieder aufbauen und den Hafen instandsetzen. Die Anlage ist zugleich die Hauptschlagader für Einfuhren, von denen die Versorgung des Landes vollkommen abhängig ist.
Die Regierung gerate jetzt unter zunehmenden Druck, ihr Reformpaket umzusetzen, sagt die an der American University Beirut (AUB) lehrende Sumru Guler Altug. Bisher habe sich das Kabinett reformresistent gezeigt. Die EU und die USA sollten zusammen ein „Multi-Millionen-Paket für den Aufbau und die Hilfe an die Armen schnüren“, fordert die AUBÖkonomin und meint: „Das Überleben des Libanon steht auf dem Spiel.“Deshalb hofft sie, dass das gespaltene Land zu einer neuen Einheit findet. Die am Ende Reformen ermöglichen werden.
Ein Wandel in vielen Bereichen ist nötig, um den Libanon zu retten. Dem Staat, der bereits vor der Katastrophe bankrott war, fehlt das Geld für den Aufbau. Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), um die Staatskassen wieder aufzufüllen, waren im Juli gescheitert. Die Begründung aus Washington war klipp und klar: Solange sich die Regierung nicht über die Ursache der Staatskrise einig sei, wäre eine Finanzhilfe schlecht investiertes Geld. Weil sich Beirut auf den internationalen Märkten keine Dollar leihen kann, setzt die Zentralbank zunehmend die Druckpresse in Bewegung, um das Defizit zu decken. Allein in den ersten vier Monaten des laufenden Jahres ist das Defizit im Staatshaushalt um 27 Prozent in die Höhe geschossen.
Schonungslose Kritik
Marcel Ghanem, einer der einflussreichsten Journalisten im Libanon, beschuldigte die Regierung wenige Stunden nach der Katastrophe auf dem TV-Sender MTV, für den Tod und das Unglück verantwortlich zu sein. „Ihr seid schlimmer als Israel“, zog er live
Nach der Explosion in Beirut steht die Zukunft des Libanon auf dem Spiel. vom Leder, „ihr seid korrupt, und eure Vernachlässigung des Landes hat zu dieser Katastrophe geführt“. Eine dermaßen harte und schonungslose Kritik an der Regierung habe es noch nie gegeben, sagen Beobachter in Beirut.
Verbalattacke auf die Elite
Mit Ghanems Verbalattacke auf die Elite können sich sehr viele identifizieren. Vor allem junge Libanesen misstrauen der politischen Elite und beschuldigen sie, in die eigene Tasche zu wirtschaften, statt die Gelder im Land zu investieren. Jetzt wird auch die schiitische Hisbollah klar Position beziehen müssen, ob sie für einen friedlichen Aufbau eintritt oder sich weiterhin als Teil der Widerstandsachse sieht, die vom Iran geführt und alimentiert wird. Die Hisbollah ist im Libanon sowohl politisch als auch militärisch die stärkste Kraft.
Immerhin: Das gestern noch von Sanktionen betroffene, isolierte Land wird mit Hilfsangeboten überhäuft. Spontan haben mehrere Regierungen Hilfe zugesagt, darunter auch Luxemburg. 100 000 Euro fließen unmittelbar an Hilfsorganisationen wie das Rote
Kreuz. Außerdem sollen heute weitere Gelder aus dem „Fonds central d’intervention d’urgence“(CERF) locker gemacht werden, in den Luxemburg in diesem Jahr fünf Millionen Euro eingezahlt hat. Das geht aus einer Pressemitteilung des Außenministeriums von gestern hervor.
Zypern, Tschechien und der Iran zeigen sich mit dem geschundenen Libanon ebenfalls solidarisch. Die Europäische Union will jede weitere Destabilisierung des arabischen Landes vermeiden – allein schon, um weitere Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa zu verhindern. Sogar Israel hat Hilfe offeriert, obwohl zwischen den beiden Ländern offiziell Kriegszustand herrscht. Ein Krankenhaus im Norden Israels zeigte sich bereit, Verletzte aufzunehmen und „gesund wieder nach Hause zu schicken“. Über internationale Vermittler hätten Verteidigungsminister Benny Gantz und Außenminister Gabi Ashkenasi zudem „medizinische und humanitäre sowie sofortige Nothilfe angeboten“, heißt es in einer offiziellen Erklärung. Beirut reagierte allerdings nicht auf die Angebote des südlichen Nachbarn.
Japans Premier Shinzo Abe
Vertreter der Atombombenopfer