Außer Lebensgefahr
Der Gesundheitszustand des bei der Polen-Tour schwer gestürzten Fabio Jakobsen beschäftigt die Radsportwelt
Der Schock sitzt tief. Die Bilder des Horrorcrashs von Fabio Jakobsen auf den letzten Metern der ersten Etappe der Polen-Tour sind erschütternd. Die Wucht des Aufpralls. Die Schwere der Verletzungen. Der Niederländer kämpft aktuell im Krankenhaus um sein Leben. Und scheint auf dem richtigen Weg: Er befindet sich nicht mehr in Lebensgefahr.
„Sein Zustand ist ernst, aber stabil“, verkündete Jakobsens Arbeitgeber Deceuninck-Quick Step, für den auch Bob Jungels fährt, am frühen Donnerstagmorgen. In der Nacht war er fünf Stunden lang in Sosnowiec am Kopf operiert worden. „Das Gehirn scheint nicht beschädigt worden zu sein“, teilte Pawel Gruenpeter, stellvertretender Direktor des Krankenhauses, mit. Auch Schäden an der Wirbelsäule konnten ausgeschlossen werden. Die Hauptverletzungen (Knochenbrüche, Hautabschürfungen und tiefe Wunden) befinden sich im Gesicht. Etwas später erklärte Rennveranstalter Czeslaw Lang, er sei „etwas erleichtert“, nachdem er mit den Medizinern gesprochen habe. „Nachdem wir den Unfall gesehen hatten, haben wir zunächst das Schlimmste befürchtet.“Der Organisator fühlte sich an 2019 erinnert. Vor zwölf Monaten starb Bjorg Lambrecht nach einem Sturz bei der Polen-Tour.
Lefevere: „Groenewegen gehört ins Gefängnis“
Aber was war eigentlich passiert? Im Sprint um den Sieg hatte Dylan Groenewegen (Jumbo) seinen Landsmann kurz vor der Ziellinie bei höchstem Tempo abgeräumt. Jakobsen flog bei 80 Stundenkilometern in die Absperrgitter und blieb regungslos liegen. „Das war
Ich hoffe, dass die UCI den Fahrer, der diesen schrecklichen Sturz verursacht hat, sperrt. Alex Kirsch
ein krimineller Akt. Er gehört dafür ins Gefängnis“, polterte Jakobsens Teamchef Patrick Lefevere wutentbrannt und legte nach: „Ich werfe ihm einen Mordanschlag vor, nichts mehr und nichts weniger.“
Der 23-jährige Jakobsen war ohne Bewusstsein ins Krankenhaus geflogen und später operiert worden. „Es ist ernst, sein Leben ist direkt bedroht. Er hat eine enorme Menge Blut verloren und erhebliche Verletzungen erlitten“, so die erste Diagnose der Rennärztin Barbara Jerschina. „Alle Knochen in seinem Gesicht sind gebrochen“, berichtete Lefevere.
Jakobsen soll unter anderem ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, einen gebrochenen Gaumen sowie eine Quetschung der Luftröhre erlitten haben. Mittlerweile hat sich sein Zustand leicht verbessert.
Oder zumindest stabilisiert. Vorsicht ist dennoch geboten: Die Ärzte wollten den Niederländer eigentlich gestern schon langsam aus dem künstlichen Koma aufwachen lassen. „Die Versuche, den Patienten aus dem künstlichen Koma zu holen, werden schrittweise erfolgen“, sagte Gruenpeter. „Wir wollen aber nichts überstürzen.“Dies wird nun vermutlich heute in den frühen Morgenstunden der Fall sein. Gruenpeter verriet gegenüber „Sporza“außerdem: „Ich hoffe, dass sein Nervensystem keinen Schaden genommen hat. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Patient gestern (Mittwoch) ungefähr während einer Stunde reanimiert wurde.“
Lefevere schäumt unterdessen weiterhin vor Wut: „Wir werden Schritte unternehmen, um bei der UCI und der Polizei Anzeige zu erstatten.“Der niederländischen Tageszeitung „De Telegraaf“erklärte der 65-Jährige, er sei noch nie in seinem Leben so wütend gewesen.
Fabio Jakobsen ist eigentlich bekannt für seine gute Laune. „Ich habe noch nie eine so schmutzige Aktion gesehen“, so der Belgier, der ergänzte: „Er macht es bewusst. Es ist unverzeihlich. Nein, ich habe überhaupt kein Verständnis für das Verhalten von Groenewegen.“
Dessen Arbeitgeber Jumbo-Visma meldete sich in den sozialen Medien zu Wort: „Unsere Gedanken sind bei Jakobsen. Solche Stürze sollten nicht passieren“, heißt es. „Wir entschuldigen uns aufrichtig und werden intern besprechen, was passiert.“
Knochenbrüche auch bei Groenewegen, Prades und Touzé
Und Groenewegen? Der 27-Jährige, der sich selber bei dem Massensturz einen Schlüsselbeinbruch zuzog, schreibt auf Twitter: „Das, was passiert ist, ist schrecklich. Mir fehlen die richtigen Worte, um zu beschreiben, wie leid es mir tut. Momentan hat die Gesundheit von Fabio Priorität. Ich denke an ihn, permanent.“
Jakobsen hat sich bei dem Horrorcrash nicht als Einziger schwer verletzt: Marc Sarreau erlitt eine Schulterverletzung mit mehreren Bänderrissen. Eduard Prades trug eine Wirbelfraktur davon. Damien Touzé zog sich einen dreifachen Bruch des rechten Zeigefingers zu. Andere Radprofis hatten mehr Glück. So auch Alex Kirsch (Trek) und Ben Gastauer (Ag2r), die das Ziel in Kattowice mit knapp anderthalb Minuten Rückstand erreichten. Kritische Worte fand Kirsch trotzdem: „Ich hoffe, dass alle gestürzten Fahrer wieder gesund werden. Und ich hoffe, dass die UCI etwas unternimmt und den Fahrer, der diesen schrecklichen Sturz verursacht hat, sperrt. Außerdem sollten wir uns Gedanken über solche Zielankünfte auf abschüssigem Gelände machen“, schreibt er auf Twitter. Der Mitarbeiter
der Organisation, mit dem Jakobsen zusammengeprallt war und der dabei ebenfalls schwer am Kopf verletzt wurde, befindet sich in einem „stabilen Zustand“, wie es noch vor dem Start des zweiten Abschnitts hieß.
Dort waren auch Jakobsens Teamkollegen dabei, die im Ziel in Zabrze vom Mentaltrainer des belgischen Teams erwartet wurden.
„Es ist ein schwerer Schlag für das Team, der hinterlässt Spuren, und das müssen wir professionell angehen mit Leuten, die dazu ausgebildet sind“, verriet Lefevere.
Zusammen mit Jakobsens Eltern und seiner Freundin ging es mit dem Privatjet nach Polen. Bei ihnen sitzt der Schock im Anschluss an den Horrorcrash besonders tief.