Luxemburger Wort

Macrons umgekehrte­r Spiegel

Nach einem Monat im Amt kommt der neue Regierungs­chef aus der Provinz – Jean Castex – gut bei den Franzosen an

- Von Christine Longin (Paris)

In den zwölf Jahren, in denen Jean Castex Bürgermeis­ter von Prades war, besuchte er fast jeden der 6 000 Einwohner der Kleinstadt im Südwesten Frankreich­s einmal. Die Strategie, zu den Leuten zu gehen und sich ihre Sorgen anzuhören, verfolgt der Regierungs­chef auch in seinem neuen Amt. 14 Reisen in die Provinz zählt der 55-Jährige nach nur vier Wochen im Palais Matignon. Weinbauern, Pfleger im Altersheim oder Polizisten: Castex traf sie alle. Von einer „Tour de France“des Premiermin­isters reden Kritiker bereits. Auch wenn er eine ganz andere Persönlich­keit hat, erinnert der vierfache Vater mit seiner Omnipräsen­z an Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, dessen stellvertr­etender Generalsek­retär im Elysée-Palast er war. „Das Virus macht keinen Urlaub. Wir auch nicht“, sagte er, als er bei einem Besuch in Lille auf seinen Terminkale­nder angesproch­en wurde.

Die Franzosen vertrauen ihrem bis zur Ernennung weitgehend unbekannte­n Premiermin­ister immerhin schon zu 56 Prozent, wie eine Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Harris Interactiv­e ergab. „Sein weniger technokrat­ischer Stil, der den Akzent auf das Konkrete und vernünftig­e Lösungen

legt, entspricht lange gehegten Erwartunge­n der Franzosen“, sagt der Meinungsfo­rscher Brice Teinturier.

Die Opposition lässt allerdings wenig Gutes am Nachfolger von Edouard Philippe. Vor allem die konservati­ven Republikan­er (LR) lästern über den groß gewachsene­n Mann mit dem lichten Haar, der wie Philippe von ihnen zu Präsident Emmanuel Macron überlief. „Er hat die Mission, uns einzuschlä­fern“, mokiert sich der LRAbgeordn­ete

Patrick Hetzel über die langsame Sprechweis­e des bieder wirkenden Castex, der den Akzent seiner südwestfra­nzösischen Heimat nicht verloren hat. Der Fraktionsc­hef der Republikan­er, Damien Abad, fordert vom neuen

Regierungs­chef schnell vorzeigbar­e Ergebnisse. Das gilt vor allem angesichts der Wirtschaft­skrise, die Frankreich nach dem Höhepunkt der Corona-Pandemie erfasst hat. Mindestens 800 000 zusätzlich­e Arbeitslos­e sagt Macron bis zum Frühjahr voraus.

Bodenständ­ig

Castex hatte den Staatschef von seinen Qualitäten überzeugt, als er im Frühjahr das Ende der strengen Ausgangssp­erre vorbereite­te. Für den Absolvente­n der Eliteschul­e ENA sprach vor allem dessen klares Bekenntnis zur Provinz. Der bodenständ­ige Premiermin­ister wirkt wie das Gegenteil des als arrogant verschrien­en Macron, dem vorgeworfe­n wird, nur auf die Pariser Eliten zu setzen. Den „umgekehrte­n Spiegel Macrons“nennt der Politologe Teinturier Castex.

Er habe nur einen Premiermin­ister gewollt, der keine Konkurrenz für ihn ist, lautete nach seiner Ernennung die Kritik. Ein einfacher „Mitarbeite­r“solle der neue Regierungs­chef sein, warfen ihm seine Gegner vor. Anders als Philippe also, der beispielsw­eise in der Rentenrefo­rm eigene Akzente gesetzt hatte. Er suche nicht das Licht, sondern Ergebnisse, versichert­e Castex im ersten Fernsehint­erview nach der Amtsüberna­hme.

Die muss er nun bei heiklen Projekten wie der Rentenrefo­rm zeigen, die seit Beginn der CoronaPand­emie auf Eis liegt. Der frühere Sozialbera­ter Sarkozys gilt als einer, der mit den Gewerkscha­ften gut umgehen kann. Sogar die kommunisti­sch geprägte CGT pries nach einem ersten Treffen die Dialogfähi­gkeit des neuen Regierungs­chefs. Frühere Kollegen vergleiche­n Castex mit einem Schweizer Messer: Vielseitig einsetzbar.

Sein weniger technokrat­ischer Stil entspricht lange gehegten Erwartunge­n der Franzosen. Brice Teinturier, Meinungsfo­rscher

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Foto: AFP Die „Tour de France“von Jean Castex: Seitdem er im Palais Matignon residiert, hat er bereits 14 Reisen in die Provinz unternomme­n. Der neue Premier gibt sich volksnah.
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