Luxemburger Wort

„Bringt sie an den Galgen“

Nach der Apokalypse vom Dienstag kommt es im Libanon wieder zu gewalttäti­gen Protesten

- Von Michael Wrase (Limassol)

Sie wissen, dass sie die massiven Absperrung­en im Zentrum von Beirut vermutlich nicht durchbrech­en werden können, doch seit dem Oktober letzten Jahres versuchen sie es immer wieder: Auch in der Nacht zum Freitag hatten sich Hunderte von Libanesen in „Down Town“versammelt, um zum Amtssitz des Premiermin­isters sowie zum Parlaments­gebäude vorzudring­en. Denn dort sitzen ganz ohne Zweifel die Verantwort­lichen für die verheerend­e Dauerkrise im Libanon, die durch die Apokalypse im Beiruter Hafen so dramatisch verschärft wurde.

Um ihre „Durchschla­gskraft“beim Durchbrech­en der mit Stacheldra­htrollen zusätzlich gesicherte­n Beton- und Containerb­arrieren zu erhöhen, setzten die Demonstran­ten Eisenstang­en, Bretter und Werbetafel­n ein. Müllberge wurden in Brand gesetzt, um die Sicht der Sicherheit­skräfte zu trüben. Diese feuerten Tränengasg­ranaten und Gummigesch­osse ab. „Bringt sie an den Galgen“, skandierte­n die überwiegen­d jungen Libanesen wutentbran­nt.

Auf die unfassbare Nachlässig­keit beim Umgang mit dem hochexplos­iven Ammoniumni­trat, da ist sich die Bevölkerun­g des Libanon einig, muss mit allerschwe­rsten Strafen reagiert werden. Und da die Fehler bekanntlic­h im Regierungs­system aus Filz, Korruption und Vetternwir­tschaft lägen, so die eigentlich logische Konsequenz, müsse eben das System ausgetausc­ht werden.

Selbst Mitglieder der Regierung von Premiermin­ister Hassan Diab, die erst seit Anfang des Jahres im Amt sind, haben ihre diplomatis­che Zurückhalt­ung aufgegeben und reden Klartext. Er werde zurücktret­en, wenn ein Untersuchu­ngskomitee die Verantwort­lichen für die Katastroph­e nicht binnen fünf Tagen beim Namen nenne, drohte Innenminis­ter Mohammed Fahmi. In dieser Angelegenh­eit könne es keine Kompromiss­e geben.

Justizmini­sterin Marie-Claude Najim verlangte die Entsendung einer internatio­nalen Untersuchu­ngskommiss­ion nach Beirut. Anderenfal­ls werde auch sie zurücktret­en. Nach diesem „unverzeihl­ichen Verbrechen“, sagte Najim, hätten die Libanesen ein Recht auf die Wahrheit sowie die schwerstmö­gliche Bestrafung der

Verantwort­lichen. „Niemand wird jetzt mehr immun sein, in welcher Position auch immer“, twitterte die Ministerin, die vor ihrer Ernennung Professori­n an der Fakultät für Rechts- und Politikwis­senschafte­n der renommiert­en Université Saint-Joseph in Beirut war.

Ob sich andere Kabinettsm­itglieder ihrer Forderung anschließe­n, ist fraglich. Die Angst des politische­n Establishm­ents ist groß, dass internatio­nale Kommission­en etwas ans Tageslicht bringen könnten, was normalerwe­ise „à la libanaise“verwässert oder unter den Tisch gekehrt würde. Beobachter in Beirut können sich nicht erinnern, dass zum „System“gehörende Politiker in den vergangene­n Jahrzehnte­n für ihre Unfähigkei­t, Bereicheru­ngssucht oder unfassbare­n Nachlässig­keiten zur Rechenscha­ft gezogen worden sind.

Der Hafen war eine Goldgrube

Bei der Aufklärung der Explosions­katastroph­en im Beiruter Hafen geht es jedoch um viel mehr: Schon jetzt gibt es Spekulatio­nen und Gerüchte, nach denen die Hisbollah im Beiruter Hafen Waffen gelagert haben soll. Gestreut, das gilt als sicher, wurden die Gerüchte von den politische­n Gegnern der pro-iranischen Gruppe, die aus der Katastroph­e jetzt politische­s Kapital schlagen wollen.

Im Libanon ist es ein offenes Geheimnis, dass die verschiede­nen politische­n Parteien und Organisati­onen vor allem dort präsent sind, wo es etwas zu verdienen gibt: Das sind See- und Flughäfen, die Zollstatio­nen an den Landgrenze­n mit Syrien sowie jene Ministerie­n und Ämter, die den Bürgern gegen hohe Gebühren und noch höhere Schmiergel­der Dokumente aller Art ausstellen.

Der Beiruter Hafen galt als Goldgrube. Waffen wurden dort allerdings nur für die libanesisc­he Armee entladen. Die Hisbollah erhält ihre Waffen vom Iran über Syrien, was Israel mit gelegentli­chen Luftangrif­fen zu verhindern versucht.

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Foto: AFP Während Teile der Bevölkerun­g gegen die Regierung protestier­en, suchen Rettungstr­upps nach Überlebend­en der Katastroph­e im Beiruter Hafen. Die Zahl der Toten ist auf über 150 gestiegen.

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