„Bringt sie an den Galgen“
Nach der Apokalypse vom Dienstag kommt es im Libanon wieder zu gewalttätigen Protesten
Sie wissen, dass sie die massiven Absperrungen im Zentrum von Beirut vermutlich nicht durchbrechen werden können, doch seit dem Oktober letzten Jahres versuchen sie es immer wieder: Auch in der Nacht zum Freitag hatten sich Hunderte von Libanesen in „Down Town“versammelt, um zum Amtssitz des Premierministers sowie zum Parlamentsgebäude vorzudringen. Denn dort sitzen ganz ohne Zweifel die Verantwortlichen für die verheerende Dauerkrise im Libanon, die durch die Apokalypse im Beiruter Hafen so dramatisch verschärft wurde.
Um ihre „Durchschlagskraft“beim Durchbrechen der mit Stacheldrahtrollen zusätzlich gesicherten Beton- und Containerbarrieren zu erhöhen, setzten die Demonstranten Eisenstangen, Bretter und Werbetafeln ein. Müllberge wurden in Brand gesetzt, um die Sicht der Sicherheitskräfte zu trüben. Diese feuerten Tränengasgranaten und Gummigeschosse ab. „Bringt sie an den Galgen“, skandierten die überwiegend jungen Libanesen wutentbrannt.
Auf die unfassbare Nachlässigkeit beim Umgang mit dem hochexplosiven Ammoniumnitrat, da ist sich die Bevölkerung des Libanon einig, muss mit allerschwersten Strafen reagiert werden. Und da die Fehler bekanntlich im Regierungssystem aus Filz, Korruption und Vetternwirtschaft lägen, so die eigentlich logische Konsequenz, müsse eben das System ausgetauscht werden.
Selbst Mitglieder der Regierung von Premierminister Hassan Diab, die erst seit Anfang des Jahres im Amt sind, haben ihre diplomatische Zurückhaltung aufgegeben und reden Klartext. Er werde zurücktreten, wenn ein Untersuchungskomitee die Verantwortlichen für die Katastrophe nicht binnen fünf Tagen beim Namen nenne, drohte Innenminister Mohammed Fahmi. In dieser Angelegenheit könne es keine Kompromisse geben.
Justizministerin Marie-Claude Najim verlangte die Entsendung einer internationalen Untersuchungskommission nach Beirut. Anderenfalls werde auch sie zurücktreten. Nach diesem „unverzeihlichen Verbrechen“, sagte Najim, hätten die Libanesen ein Recht auf die Wahrheit sowie die schwerstmögliche Bestrafung der
Verantwortlichen. „Niemand wird jetzt mehr immun sein, in welcher Position auch immer“, twitterte die Ministerin, die vor ihrer Ernennung Professorin an der Fakultät für Rechts- und Politikwissenschaften der renommierten Université Saint-Joseph in Beirut war.
Ob sich andere Kabinettsmitglieder ihrer Forderung anschließen, ist fraglich. Die Angst des politischen Establishments ist groß, dass internationale Kommissionen etwas ans Tageslicht bringen könnten, was normalerweise „à la libanaise“verwässert oder unter den Tisch gekehrt würde. Beobachter in Beirut können sich nicht erinnern, dass zum „System“gehörende Politiker in den vergangenen Jahrzehnten für ihre Unfähigkeit, Bereicherungssucht oder unfassbaren Nachlässigkeiten zur Rechenschaft gezogen worden sind.
Der Hafen war eine Goldgrube
Bei der Aufklärung der Explosionskatastrophen im Beiruter Hafen geht es jedoch um viel mehr: Schon jetzt gibt es Spekulationen und Gerüchte, nach denen die Hisbollah im Beiruter Hafen Waffen gelagert haben soll. Gestreut, das gilt als sicher, wurden die Gerüchte von den politischen Gegnern der pro-iranischen Gruppe, die aus der Katastrophe jetzt politisches Kapital schlagen wollen.
Im Libanon ist es ein offenes Geheimnis, dass die verschiedenen politischen Parteien und Organisationen vor allem dort präsent sind, wo es etwas zu verdienen gibt: Das sind See- und Flughäfen, die Zollstationen an den Landgrenzen mit Syrien sowie jene Ministerien und Ämter, die den Bürgern gegen hohe Gebühren und noch höhere Schmiergelder Dokumente aller Art ausstellen.
Der Beiruter Hafen galt als Goldgrube. Waffen wurden dort allerdings nur für die libanesische Armee entladen. Die Hisbollah erhält ihre Waffen vom Iran über Syrien, was Israel mit gelegentlichen Luftangriffen zu verhindern versucht.