Und plötzlich Jugendstil
Von einer kurzen Luxemburger Architekturepisode und ihren heutigen Zeugnissen
„Hast du die Treppe und die Wände gesehen? Das ist doch Art Nouveau!“, freut sich die Dame euphorisch auf einer sommerlichen Führung durch die Palasträume. Ja, es gibt sie, diese Jugendstilentdeckungen im Großherzogtum – in diesem Fall im Großherzoglichen Palais, genauer gesagt auf der Treppe im ersten Stock, die von einer der Umbauten im späten 19. Jahrhundert zeugt.
Jugendstil in Luxemburg? Da fahren Kenner und Fans doch viel lieber nach Brüssel und Nancy, wo die treibenden Kräfte der Kunstströmung sehr markante Zeugnisse hinterlassen haben. Was für ein Trugschluss – denn manche Jugendstilschönheit ist auch in Luxemburg zu bewundern, vor allem Fassaden großbürgerlicher Bauten. Plötzlich tauchen sie im Stadtbild auf und bei fokussiertem Blick offenbaren sie ihre Pracht und überdauernde Kunstfertigkeit.
Die berühmten, fließenden floralen Schwünge – ob als Malerei auf der Fassade, in Stein gemeißelt oder geformt in Metall. Dekorative Ornamentik, fließende Formen, Erinnerungen an Flora und Fauna und die so genannten Peitschenschlaglinien – der Jugendstil hatte zu Beginn des 20 Jahrhunderts zwar nur eine vergleichsweise kurze Blüte, aber er entfaltete seine Kraft bis nach Luxemburg. Ob in der Hauptstadt in der Rue du Curé oder in der Rue Goethe und in der Avenue des Bains in Bad Mondorf, in der Rue de l’Alzette in Esch/Alzette und sogar in Diekirch mit der ehemaligen Werkstatt Jean Wagner (Conservatoire National de Véhicules Historiques) – bis heute lässt sich schon an den mühevoll erarbeiteten Details erkennen, was für ein Aufwand der Bau gewesen sein muss.
Ein Blick in die weit tiefer gehenden Publikationen von Robert Philippart, Muriel De Groef, Alain Linster, Alex Bodry und Antoinette Lorang macht die Entwicklung zu den Modernismen in Luxemburg und eben auch der Art Nouveau deutlich – und zeigt noch facettenreicher die Details. Das überrascht viele, die glaubten, Luxemburg habe diese Bauströmung verschlafen. Im Gegenteil, die Botschaft, die die (Kunst-)Historiker ausgeben, ist: Luxemburger zeigten sich weltoffen und kreativ für neue Ideen des Jugendstils – zumindest, wenn sie den passenden Geldbeutel dazu hatten.
Als die Wohn- und oft auch Geschäftsbauten des Jugendstils im frühen 20. Jahrhundert entstehen, befindet sich Luxemburg mitten in einem starken Wandel. Die Industrialisierung ist in vollem Gange, Luxemburg wirkt, stärker als lange zuvor, als politisches Zentrum, Esch/Alzette ist Zentrum des Geschäftslebens und der Minett-Erzindustrie. Mit den politischen Veränderungen und einem Erstarken des Luxemburger Nationalgefühls kam auch so etwas wie der Wille zur Neugestaltung auf – weg vom Agrarstaat oder der militärischen Vergangenheit.
Motoren der Kreativität
In der Hauptstadt wurde die Festung geschliffen, die Bevölkerung stieg stark an, Luxemburg zog Migranten an. Dazu kamen technische Entwicklungen wie der Eisenbahnbau und damit nicht nur ein stärkerer Menschen-, Ideen- und Kultur-Austausch auf, sondern auch zum Beispiel die Verfügbarkeit von Baumaterialien stieg. Die 1903 eröffnete Pont Adolphe schuf eine der Grundlagen für die Erweiterung der Hauptstadt nach Süden Richtung Bahnhof. Auf dem Plateau Bourbon entstand ein völlig neues Quartier, städtebaulich und architekturpolitisch mit dem Anspruch, Luxemburg in die Zukunft zu führen. In Esch/Alzette nicht anders: das Stadtbild veränderte sich durch die neuen Bedingungen als Wirtschaftszentrum.
Geschäftstüchtige Unternehmer machten ihr Vermögen im Land und wollten das auch repräsentativ zeigen. Und das in unterschiedlichen Formen: neben dem Historismus (zum Beispiel der Sitz der Arbed) war der Jugendstil nur eine von mehreren Parallelströmungen – aber er kam vor. Der Warenhausgedanke hielt Einzug in den Geschäftsstraßen, was zum Beispiel zum mehrstöckigen Bau des Nouveau Paris (heute H&M) in der Hauptstadt führte – oder der Wohn- und Geschäftssitz wurde in
Bögen, Schwünge, Farben sind Stilelemente des Jugendstils.
Szene gesetzt: wie die Maison Link – gebaut für den gleichnamigen Juwelier in der hauptstädtischen Rue du Curé – oder die Villa des Unternehmers César Clivio, das heute zum Komplex der Spuerkeess in der Rue Goethe gehört.
Einige dieser Bauten verfügen sogar auch heute noch im Inneren über Zeugnisse – der Stil war als Gesamtkunstwerk angelegt, Architektur, Innenarchitektur, Kunsthandwerk und Bildhauerei gingen Hand in Hand. So bestätigt eine der kunsthistorischen Expertinnen im Nationalmuseum, Ulrike Degen, dass die Fachleute gebeten wurden, bei der Renovierung der Maison Link beratend zur Seite zu stehen. Einblicke in die privaten Wohnräume und Treppenhäuser finden sich in dem reich bebilderten Band „Jugendstil au Grand-Duché de Luxembourg“von Muriel De Groef.
Genau diese besondere Wertschätzung bis ins kleinste Detail ist heute auch ein konservatorisches Problem – es verlangt Engagement und verursacht Kosten. Wie Muriel De Groef schreibt, sind längst nicht alle Zeugnisse der Zeit so gut erhalten; manches Mal werde gar die Bedeutung unterschätzt, wenn an Bauten weniger opulente Stilmerkmale vorhanden sind. Wer in die Archive blickt, bemerkt auch, wie stark das Engagement auch von den Bürgern geprägt ist. Das gilt besonders für die Maison Meder in Esch/Alzette, deren Abriss nach langem Leerstand in den 1970er-Jahren schon drohte. Heute in Staatsbesitz, ist es eines der funkelnden Zeugnisse der Luxemburger Baugeschichte – und in diesem Fall der französischen Ausprägung des Stils.
Und genau das macht die Suche im Land nach den Zeugnissen des Stils so spannend: damalige Bauherren, Architekten und Kunsthandwerker brachten ganz unterschiedliche Einflüsse und Ausprägungen des Jugendstils im Großherzogtum zusammen. Diese Bandbreite ist einzigartig. Interessierte bekommen bei der Suche aber durchaus Hilfe: Robert Philippart, der unter anderem seine Doktorarbeit über den Modernismus geschrieben hat, bietet Führungen speziell zu den besonderen Wendejahrzehnte der Belle Époque an.
Auch wenn heute viel Bewunderung herrscht: Der Jugendstil endet als große Illusion der Reichen und Harmoniesüchtigen am Fin de Siècle, dieser Zeit, in der die Welt sich radikal verändert und durch den Ersten Weltkrieg erschüttert wird. Die Art Nouveau wird von anderen architektonischen Stilen überlagert und verdrängt. Doch die grundlegenden Fragen um eine neue Architektur in einem Gesamtkonzept, das sich am modernen Menschen orientiert, sind nicht mehr wegzudenken – auch wenn die Antworten darauf, ob im Bauhaus oder der Moderne, anders aussehen.
Ob die Maison Meder (o.) in Esch/Alzette (Rue Zénon-Bernard), die Villa Bettenfeld (l.) in Bad Mondorf (Rue des Bains) oder die Maison Link (r.) in der Hauptstadt (Rue du Curé) – nur dank viel Engagement von Besitzern und Bürgern sind Schätze aus dem Jugendstil heute noch erhalten und zeugen von der Baugeschichte des Modernismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts.