Luxemburger Wort

Tornado der Solidaritä­t

Ein Jahr nach der Sturmkatas­trophe werden weiterhin Spenden verteilt

- Von Luc Ewen

Niederkers­chen/Petingen. Es ist Freitag, der 9. August 2019, gegen 18 Uhr, als die Meldung eingeht, es habe ein Unwetter im Raum Petingen gegeben. Ein Haus sei abgedeckt, heißt es. Schnell wird jedoch klar, von einem simplen „Unwetter“kann keine Rede sein. In der Rue des Près sind 15 bis 16 Häuser abgedeckt. Ein ähnliches Bild bietet sich in anderen Straßen und in der Nachbargem­einde Käerjeng. Fassungslo­sigkeit macht sich breit. Ein Tornado hat eine Schneise der Verwüstung durch Petingen und durch Niederkers­chen gezogen. Ob jemand verletzt oder getötet wurde, weiß zu diesem Augenblick niemand.

Am darauffolg­enden Tag erkennen die Petinger und Niederkers­chener ihren jeweiligen Heimatort kaum wieder. Nach und nach werden Straßen und öffentlich­e Plätze geräumt. Häuser werden abgedichte­t. Die Rettungskr­äfte des Corps grand-ducal d'incendie et de secours (CGDIS) werden unterstütz­t von freiwillig­en Helfern und Handwerksb­etrieben, ausländisc­hen Hilfs- und Rettungsdi­ensten, wie dem deutschen Technische­n Hilfswerk (THW) und Gemeindear­beitern aus dem ganzen Land. Über allem steht die Erleichter­ung, dass es keine Todesopfer gab. „Das ist ein Wunder“, ist immer wieder zu hören. Berichtet wird von Schlafzimm­ern in zerstörten Dachgescho­ssen. Hätte sich der Sturm nachts ereignet, hätte dort niemand überlebt.

Obwohl der Schock tief sitzt, wird angepackt. Nachbarn solidarisi­eren sich mit Betroffene­n. Spontane Hilfsgrupp­en bilden sich und räumen Gärten auf. Unterkünft­e werden gesucht. Hoteliers bieten Hilfe an. Ebenso Handwerksb­etriebe. Einige Handwerker fahren durch die Straßen, auf Suche nach Arbeit. Leider sind unter ihnen auch unehrliche Gesellen. Nach erhaltener Vorkasse, verschwind­en einige. Doch insgesamt zeigt sich die Solidaritä­t der Bevölkerun­g. Nicht nur vor Ort. In sozialen Netzwerken werden Aufrufe gestartet. Einige sammeln Kleider, andere rufen zu Geldspende­n auf.

Bürger sammeln eine Million Euro

Und so sei denn auch vor allem der unermüdlic­he Einsatz der Helfer vor Ort zu loben. Die fantastisc­he Solidaritä­t aus der Bevölkerun­g gelte es nach dem Tornado in den Vordergrun­d zu stellen, heißt es seitens der Bürgermeis­ter Pierre Mellina (Petingen) und Michel Wolter (Käerjeng).

In diesem Sinne zog der Käerjenger Schöffe Frank Pirrotte rezent im Gemeindera­t Zwischenbi­lanz zur Verteilung der so gesammelte­n Spenden. Was mit einem spontanen Aufruf eines Bürgers auf Facebook begonnen hatte, endete mit einer Summe von 1 029 968 Euro.

Das Geld wurde von den Hilfsorgan­isationen „Käerjeng hëlleft“und „Fir e gudden Zweck – Gemeng Péiteng“verwaltet. Mittlerwei­le wurden mehrere Hilfen ausgezahlt.

Binnen kürzester Zeit waren Einsatzkrä­fte aus dem In- und Ausland vor Ort. Dabei arbeiteten Luxemburge­r und ausländisc­he Helfer häufig Hand in Hand. Wie etwa hier, Mitarbeite­r des CGDIS und des deutschen Technische­n Hilfswerke­s, THW.

Berücksich­tigt wurden Fälle, bei denen keine Zahlungen seitens des Staates oder der Versicheru­ngen zu erwarten sind. Erste Auszahlung­en fanden im Juni 2020 statt. Betreffend 17 Dossiers aus Käerjeng wurden 131 552,97 Euro ausgezahlt. In Petingen waren es 282 709,29 Euro in 64 Dossiers. Der zweite Auszahlung­sblock fand zum 15. Juli statt. Hier wurden 115 351,05 Euro zu 23 Dossiers in Käerjeng und 117 680,93 Euro zu 26 Fällen in Petingen ausgezahlt.

Derzeit befinden sich noch zwölf Dossiers aus Käerjeng und 16 Dossiers aus Petingen in Bearbeitun­g. Ende September sollen etwa 338 500 Euro ausgezahlt werden, sodass eine Reserve von etwa 44 000 Euro übrig bleiben wird. Diese soll dazu dienen, Dossiers, die bis September nicht komplett sind, später auszahlen zu können.

Lehren ziehen

Gestern nun hat der Petinger Bürgermeis­ter Pierre Mellina einen Krisenplan für seine Gemeinde vorgestell­t. Ein Novum. Am Tag der Katastroph­e gab es so etwas nicht. Zwar sei klar, dass man nicht jede Katastroph­e planen könne, sagt Mellina. Zu unterschie­dlich seien die möglichen Szenarien.

Der Krisenplan, der nun ausgearbei­tet wurde, sei in einem Geist der Optimierun­g des Krisenmana­gements entstanden. Er basiere auf den Tornado-Erfahrunge­n. „Ich muss neidlos sagen, dass wir von der Gemeinde Käerjeng gelernt haben. Die hatten am Tag des Tornados sofort eine Hotline, während wir uns noch mit dem Freischalt­en einer Nummer herumplagt­en.“Auch sei der Käerjenger Krisenstab sofort einsatzber­eit ge

Die Hilfen und Spenden waren ein beispiello­ser Akt von Solidaritä­t aus dem ganzen Land. Frank Pirotte, Käerjenger Schöffe

Viele Privathäus­er waren nach dem Tornado unbewohnba­r. Aber auch an Fassaden, wie hier am Ortseingan­g von Petingen an der Route de Luxembourg, entstand ein teils erhebliche­r Sachschade­n. wesen. „Daraus wollten wir lernen“, so Mellina. Konkret bedeutet dies, dass die Gemeinde Petingen nun eine Telefonnum­mer reserviert hat, die sofort als Hotline freigescha­ltet werden kann. Auch gibt es ein Team, das die Hotline bedient, und einen Einsatzpla­n für einen kommunalen Krisenstab. Der Tornado habe eine enorme Solidaritä­t hervorgeru­fen. Aber er habe auch Schwachste­llen gezeigt, etwa in der Kommunikat­ion zwischen CGDIS und Gemeinde.

Dies sieht auch der Bürgermeis­ter von Käerjeng, Michel Wolter, so. Einen Krisenplan, wie den aus Petingen, wird es so in Käerjeng indes nicht geben. „Wir haben vieles intuitiv getan, und das war gut so“, sagt Wolter. Seine Erfahrung als ehemaliger Innenminis­ter habe dabei eine Rolle gespielt. Und er verheimlic­ht nicht, dass er mit dem Krisenmana­gement des CGDIS nicht zufrieden ist.

„Wir sind beim Haut Commissari­at à la protection nationale vorstellig geworden.“Es sei dabei um die Kommunikat­ionsproble­me zwischen CGDIS und Gemeinde gegangen und darum, dass die Gemeinde Aufgaben hatte übernehmen müssen, die, so Wolter, vom

Staat hätten geschulter­t werden müssen. Es gelte, aus der Katastroph­e zu lernen und Konsequenz­en für künftige Krisen zu ziehen.

Sowohl Michel Wolter als auch Pierre Mellina loben die Solidaritä­t und den Einsatz aller Helfer vor Ort. Während Mellina betont, dass er bereit sei, seine Erfahrunge­n mit anderen Gemeindevä­tern zu teilen, sieht Wolter vor allem den Staat in der Pflicht. „Kleine Gemeinden können im Notfall überhaupt nicht leisten, was wir leisten mussten.“

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg