Die letzte Chance
Die gewaltige Explosion im Hafen von Beirut hat einen Großteil der Stadt zerstört. Doch bevor die halbe libanesische Hauptstadt in die Luft geflogen ist, hatte die politische Elite das Land konsequent in den Abgrund manövriert. Die Libanesen machen ihre Regierung daher zurecht für die Katastrophe verantwortlich.
Die Explosion ist nur der letzte Tropfen, den das Fass unwiderruflich zum Überlaufen gebracht hat. Am vergangenen Dienstag ging nämlich viel mehr zu Bruch als Ziegelsteine, Beton und Glas: Die Bevölkerung hat den allerletzten Rest an Vertrauen in die Regierung verloren. Die Demonstrationen der letzten Wochen und Monate waren nur ein Vorgeschmack, auf das, was noch kommen wird. Denn die Libanesen haben nichts mehr zu verlieren. Der Geist ist endgültig aus der Flasche, einen
Weg zurück in die „Normalität“gibt es nicht mehr. Wenn Regierungschef Hassan Diab nun Neuwahlen ankündigt, ist dies bestenfalls ein Versuch, die eigene Haut und die seiner Mitstreiter zu retten. Auch der vielleicht ehrlich gemeinte Rücktritt von Informationsministerin Manal Abdel Samad ist nicht das Papier wert, auf dem sie ihr Gesuch niedergeschrieben hat. Solch halbherzige Gesten vermögen nichts, aber auch gar nichts gegen die Wut und den Zorn der Libanesen auszurichten. Dazu ist es viel zu spät.
Der Libanon muss sich neu erfinden. Der Fehler liegt nämlich im System. Damit es im multikonfessionellen Zedernstaat einigermaßen ruhig bleibt, gilt im politischen Machtapparat seit jeher ein religiöser Proporz. Was theoretisch als Ausgleich gedacht war, gibt in Wirklichkeit den verschiedenen Religionen und ihren jeweiligen „Schutzmächten“Raum, um ihren politischen Einfluss zu zementieren. Ein Teufelskreis. Die konstante Einmischung von außen geht einher – und ist eng verzahnt – mit den Machtansprüchen der einzelnen Clans. Sie teilen sich seit Jahren die Institutionen ungeniert untereinander auf und bereichern sich auf Kosten der Bürger. Die Korruption und das politische Versagen sind nicht nur Schuld an der aktuellen Katastrophe, sie sind auch der Grund, weshalb der libanesische Staat seit langem den Grundbedürfnissen seiner Bürger nicht mehr gerecht wird, Beispiel Gesundheitssystem, Strom- und Wasserversorgung.
So lange es einigermaßen ruhig war, hat die internationale Staatengemeinschaft dem Treiben im Libanon tatenlos zugeschaut. Nun läuft die Hilfsmaschinerie an. Der Libanon braucht Soforthilfe, damit die Toten begraben, die Verletzten versorgt und die Obdachlosen untergebracht werden können. Der Libanon braucht Hilfe, um seine zerstörte Hauptstadt nach dem Bürgerkrieg bereits zum zweiten Mal in nur 30 Jahren wieder aufzubauen. Der Libanon braucht aber auch langfristig Hilfe, um das marode politische System zu reformieren.
Die Bereitschaft der Staatengemeinschaft, dem Zedernstaat mit vielen Millionen Euro unter die Arme zu greifen ist da. Doch es bleibt ein fauler Beigeschmack: Angesichts der grassierenden Korruption stellt sich die Frage, ob die Gelder auch dort ankommen, wo sie gebraucht werden.
In Beirut ging viel mehr zu Bruch als Ziegelsteine, Beton und Glas
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