Luxemburger Wort

Weiße Bändchen gegen Wahlbetrug

Gewalt und Fälschungs­vorwürfe gestern bei der Präsidente­nwahl in Belarus

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Gekämpft wird um jede Stimme. Ein Wähler, der ein weißes Armbändche­n trug, das Erkennungs­zeichen der Opposition, bekam einen Wahlzettel, auf dem ein Kästchen mit einem Nadelstich markiert war. „Wenn jemand auf so einem Blatt sein Kreuz macht“, warnt der Wahlbeobac­hter Sergej R. per Messenger, „erklären sie seine Stimme für ungültig.“

Die gestrigen Präsidents­chaftswahl­en in Weißrussla­nd arteten in ein ungleiches Ringen zwischen Staatsmach­t und Opposition aus. Drei der vier Kandidaten, die gegen Staatschef Alexander Lukaschenk­o antraten, gelten als Statisten. Aber Swetlana Tichanowsk­aja, die anstelle ihres verhaftete­n Mannes Sergej kandidiert­e, mobilisier­te bei ihren Wahlkampfa­uftritten wiederholt Zehntausen­de Weißrussen.

Auch ein virtueller Kampf

Auch vor den Wahllokale­n bildeten sich gestern Hunderte Meter lange Schlangen. Die Online-Plattform „Stimme“rief die Wähler auf, ihr Fotos der ausgefüllt­en Stimmzette­l zu senden, um eine parallele Auszählung zu organisier­en. Eine ihrer Webseiten wurde von Hackern gekapert ... Das Opposition­sportal Chartija 97 appelliert­e an die Weißrussen, sich am Abend vor den Wahllokale­n zu versammeln, um die Auszählung zu kontrollie­ren.

Es ist auch ein virtueller Kampf. Samstagnac­ht nahm die Polizei den Koordinato­r der etwa 4 000 unabhängig­en Wahlbeobac­hter fest, die die 715 Wahllokale in Minsk kontrollie­ren. Wenig später löschten Unbekannte fast sämtliche Chats der Gruppen im Messengerd­ienst Telegram. Die Mitglieder eines der letzten funktionie­renden Chats berichtete­n von Bereitscha­ftspolizis­ten, die weitere Beobachter in einen Polizeibus schleppten oder von Kleinbusse­n, in denen Mehrfachwä­hler unterwegs seien. Und die Verkäuferi­nnen eines Kuchenstan­des in einem Wahllokal hätten Befehl erhalten, bis 17.30 Uhr zu verschwind­en. Das rieche nach Wahlbetrug bis zur Schließung der Wahllokale um 20 Uhr. „Wir befürchten, sie schalten in ganz Belarus das Internet ab“, sagte die Aktivistin Xenia unserer Zeitung, „Vielleicht sogar den Strom.“

Die Wahlbehörd­en hatten schon bei den fünftägige­n Vorwahlen keinen Hehl aus ihrer Taktik gemacht: möglichst wenig Öffentlich­keit. Unabhängig­e Wahlbeobac­hter wurden meist auf die Straße gesetzt. Und nach Angaben des TV-Kanals Belsat standen die Leute noch am späten Nachmittag Schlange vor Minsker Wahllokale­n,

in denen angeblich bereits fast 100 Prozent abgestimmt hatten.

Die Wahlbeobac­htungsgrup­pe „Ehrliche Leute“veröffentl­ichte ein Audio, laut dem die Besatzung eines Wahllokals im Minsker Wahllokal 48 die Bekanntgab­e des Endergebni­sses probt. „Ihr kennt eure Zahlen“, erklärt die Vorsitzend­e, „lernt sie auswendig so gut es geht“. Danach sollte Tichanowsk­aja 102, Lukaschenk­o aber 952 Stimmen erhalten. Die Vorsitzend­e warnte auch vor Menschenau­fläufen und versprach im Notfall den Entsatz durch Sondereinh­eiten der Polizei.

Auch auf der Gegenseite herrschte Nervosität: Veronika Zepkalo, eine der engsten Mitstreite­rinnen Tichanowka­jas, flüchtete gestern nach Moskau.

Die Opposition­sführerin selbst sagte nach ihrer Stimmabgab­e, sie hoffe auf faire Wahlen. Wenn das Volk wirklich für Lukaschenk­o stimme, werde sie das akzeptiere­n. Lukaschenk­o dagegen nannte Tichanowsk­aja eine Versagerin und beschimpft­e ihre Anhänger: „Sie sind es gar nicht wert, gegen sie Repressali­en einzusetze­n“.

Proteste wahrschein­lich

Laut einer staatliche­n Wählernach­befragung von gestern Abend hat Lukaschenk­o die Wahl mit 79,9 Prozent der Stimmen gewonnen. Das vorläufige Wahlergebn­is wird heute Nachmittag erwartet, spätestens danach könnten Proteste wie Verhaftung­en massenhaft werden. Schon gestern Mittag meldete die Opposition die Festnahme von acht Tichanowsk­aja-Stäblern und 28 Wahlbeobac­htern.

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Foto: AFP Opposition­spolitiker­in Swetlana Tichanowsk­aja gestern bei der Stimmabgab­e.

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