Weiße Bändchen gegen Wahlbetrug
Gewalt und Fälschungsvorwürfe gestern bei der Präsidentenwahl in Belarus
Gekämpft wird um jede Stimme. Ein Wähler, der ein weißes Armbändchen trug, das Erkennungszeichen der Opposition, bekam einen Wahlzettel, auf dem ein Kästchen mit einem Nadelstich markiert war. „Wenn jemand auf so einem Blatt sein Kreuz macht“, warnt der Wahlbeobachter Sergej R. per Messenger, „erklären sie seine Stimme für ungültig.“
Die gestrigen Präsidentschaftswahlen in Weißrussland arteten in ein ungleiches Ringen zwischen Staatsmacht und Opposition aus. Drei der vier Kandidaten, die gegen Staatschef Alexander Lukaschenko antraten, gelten als Statisten. Aber Swetlana Tichanowskaja, die anstelle ihres verhafteten Mannes Sergej kandidierte, mobilisierte bei ihren Wahlkampfauftritten wiederholt Zehntausende Weißrussen.
Auch ein virtueller Kampf
Auch vor den Wahllokalen bildeten sich gestern Hunderte Meter lange Schlangen. Die Online-Plattform „Stimme“rief die Wähler auf, ihr Fotos der ausgefüllten Stimmzettel zu senden, um eine parallele Auszählung zu organisieren. Eine ihrer Webseiten wurde von Hackern gekapert ... Das Oppositionsportal Chartija 97 appellierte an die Weißrussen, sich am Abend vor den Wahllokalen zu versammeln, um die Auszählung zu kontrollieren.
Es ist auch ein virtueller Kampf. Samstagnacht nahm die Polizei den Koordinator der etwa 4 000 unabhängigen Wahlbeobachter fest, die die 715 Wahllokale in Minsk kontrollieren. Wenig später löschten Unbekannte fast sämtliche Chats der Gruppen im Messengerdienst Telegram. Die Mitglieder eines der letzten funktionierenden Chats berichteten von Bereitschaftspolizisten, die weitere Beobachter in einen Polizeibus schleppten oder von Kleinbussen, in denen Mehrfachwähler unterwegs seien. Und die Verkäuferinnen eines Kuchenstandes in einem Wahllokal hätten Befehl erhalten, bis 17.30 Uhr zu verschwinden. Das rieche nach Wahlbetrug bis zur Schließung der Wahllokale um 20 Uhr. „Wir befürchten, sie schalten in ganz Belarus das Internet ab“, sagte die Aktivistin Xenia unserer Zeitung, „Vielleicht sogar den Strom.“
Die Wahlbehörden hatten schon bei den fünftägigen Vorwahlen keinen Hehl aus ihrer Taktik gemacht: möglichst wenig Öffentlichkeit. Unabhängige Wahlbeobachter wurden meist auf die Straße gesetzt. Und nach Angaben des TV-Kanals Belsat standen die Leute noch am späten Nachmittag Schlange vor Minsker Wahllokalen,
in denen angeblich bereits fast 100 Prozent abgestimmt hatten.
Die Wahlbeobachtungsgruppe „Ehrliche Leute“veröffentlichte ein Audio, laut dem die Besatzung eines Wahllokals im Minsker Wahllokal 48 die Bekanntgabe des Endergebnisses probt. „Ihr kennt eure Zahlen“, erklärt die Vorsitzende, „lernt sie auswendig so gut es geht“. Danach sollte Tichanowskaja 102, Lukaschenko aber 952 Stimmen erhalten. Die Vorsitzende warnte auch vor Menschenaufläufen und versprach im Notfall den Entsatz durch Sondereinheiten der Polizei.
Auch auf der Gegenseite herrschte Nervosität: Veronika Zepkalo, eine der engsten Mitstreiterinnen Tichanowkajas, flüchtete gestern nach Moskau.
Die Oppositionsführerin selbst sagte nach ihrer Stimmabgabe, sie hoffe auf faire Wahlen. Wenn das Volk wirklich für Lukaschenko stimme, werde sie das akzeptieren. Lukaschenko dagegen nannte Tichanowskaja eine Versagerin und beschimpfte ihre Anhänger: „Sie sind es gar nicht wert, gegen sie Repressalien einzusetzen“.
Proteste wahrscheinlich
Laut einer staatlichen Wählernachbefragung von gestern Abend hat Lukaschenko die Wahl mit 79,9 Prozent der Stimmen gewonnen. Das vorläufige Wahlergebnis wird heute Nachmittag erwartet, spätestens danach könnten Proteste wie Verhaftungen massenhaft werden. Schon gestern Mittag meldete die Opposition die Festnahme von acht Tichanowskaja-Stäblern und 28 Wahlbeobachtern.