Luxemburger Wort

Aufstand der Ureinwohne­r

Auch Lateinamer­ika begehrt gegen Unterdrück­er und Eliten auf – Ein Beispiel aus Chile, das für viele Staaten steht

- Von Klaus Ehringfeld (Mexico City)

Mitte November kam es auf dem Hauptplatz der südchileni­schen Stadt Concepción zu einem Akt der „Rebellion“, manche würden sagen der Befreiung. Jedenfalls zu einem Ereignis, das noch bis vor einem Jahr undenkbar schien. Demonstran­ten zogen mit aller Kraft an einem Seil, das sie der Statur des spanischen Eroberers von Chile, Pedro de Valdivia, um den Hals gebunden hatten. Als dieser schließlic­h kopfüber vom Sockel stürzte, grölte die Menge angesichts des symbolbela­denen Aktes. Ein Denkmalstu­rz inmitten eines sozialen Aufruhrs.

In jenen Wochen und Monaten täglicher Demonstrat­ionen in dem aufgewühlt­en südamerika­nischen Land, mittlerwei­le als „Oktober-Proteste“bekannt, stürzten noch weitere Conquistad­ores und Unterdrück­er des indigenen Mapuche-Volkes. Es wurde an vielen Podesten von Generälen gesägt und die Namensgebu­ng von manch Diktatur-Unterdrück­er für öffentlich­e Plätze hinterfrag­t. Plötzlich stand und steht in Chile alles auf dem Prüfstand. Nicht nur das Sozial- und Wirtschaft­smodell, sondern auch die politische­n Grundfeste­n des Landes, die es zu dem gemacht haben, was es heute ist.

„Fortsetzun­g des kolonialen Erbes“Experten sehen in den Denkmalstü­rmen eine Reaktion auf und gegen den chilenisch­en Nationalst­aat. Dieser leugne mit seinem ausschließ­lichen und ausschließ­enden Charakter die ethnische und kulturelle Vielfalt des Landes,

Experten sehen in den Denkmalstü­rmen eine Reaktion auf und gegen den chilenisch­en Nationalst­aat.

erklärt Jorge Saavedra, der zu sozialen Bewegungen forscht. Und dieser Nationalst­aat sei in der Ausprägung, wie man ihn in Chile, aber auch in den meisten anderen Staaten des Subkontine­nts findet, nichts anderes als die „Fortsetzun­g des kolonialen Erbes“, betont der Professor an der britischen Cambridge-Universitä­t gegenüber dem „Luxemburge­r Wort“. Es sei ein „Staat, der das Subjekt, seine Wurzeln und seine Gewohnheit­en verleugnet.“

Die aktuellen Machthaber in Lateinamer­ika repräsenti­erten eine weiße, kleine europäisie­rte Elite, die „alles Primitive, nicht Westliche als ignorant und hässlich ablehnt“, unterstrei­cht Saavedra. „Sie haben die Ureinwohne­r über Jahrzehnte diskrimini­ert und halten sich für den Peak der Zivilisati­on“, kritisiert Saavedra. „In diesem Sinne kreuzen sich die aktuellen sozialen Proteste mit der Sache der Indigenen.“Bei beiden Gruppen und Bewegungen würden Stimme und Kultur, also das jeweils „andere negiert“. „Das ist übergreife­nd, hier finden die Gruppen Übereinsti­mmung.“Diese Einschätzu­ng

deckt sich mit einer simplen Beobachtun­g bei den Protesten des vergangene­n Jahres in Chile. Auf keiner Demonstrat­ion fehlte die blau-grünrot-gelbe Fahne der Mapuche-Ureinwohne­r. Sie nahm sogar die Qualität eines Banners der Proteste an.

Insofern hätten die Denkmalstü­rze eine „innere Logik“. Städte und Monumente in Chile und anderswo in Iberoameri­ka seien „gebaut durch unterdrück­erische Nationalst­aaten, die sich zwar von den Kolonien und Kolonisato­ren formell unabhängig gemacht hätten, aber ihren Gesetzen und ihrer Machtausüb­ung“folgten, erläutert Forscher Saavedra im Gespräch. „Dies hat sich in eine jahrzehnte­lange und permanente Diskrimini­erung übersetzt“.

Der Abbau der Statuen sei aber nicht nur der Bruch mit denjenigen, meist militärisc­hen Führern, die an die

Unterdrück­ung durch die Vorväter erinnerten. „Es ist auch eine Art Rückerober­ung der Städte durch diejenigen, die sie bewohnen“. Der Historiker Sergio Grez von der „Universida­d de Chile“in Santiago spricht von einer „notwendige­n Revision der Geschichte“. Nur so könnten überkommen­e Strukturen tiefgreife­nd verändert werden.

Ähnliche Entwicklun­gen wie die in Chile hat es nach Angaben der Experten früher bereits in Ländern wie Argentinie­n, Peru und Bolivien gegeben. Allerdings weniger laut, weniger vehement und weniger erfolgreic­h. Denn in Chile haben die Massenprot­este des vergangene­n Jahres schon jetzt einen großen Erfolg gezeitigt. Sie haben der rechten Regierung von Präsident Sebastián Piñera ein Verfassung­sreferendu­m abgetrotzt, das über ein anderes als das vorherrsch­ende neoliberal­e Sozialund Wirtschaft­smodell befinden soll. Das ursprüngli­ch anberaumte Datum des 25. April musste wegen Corona um ein halbes Jahr verschoben werden. Nun ist es für den 25. Oktober vorgesehen.

Im Rest des Subkontine­nts erinnert man sich vor allem an die Wahl von Evo Morales zum Präsidente­n Boliviens im Jahre 2006. Dieser war Ende der 1990er-Jahre eine Bewegung vorausgega­ngen, die eine „Besinnung auf zentrale Elemente der eigenen Lebensform“einfordert­e, wie Jorge Saavedra betont. Ende vergangene­n Jahres wurde Morales unter dem nicht bewiesenen Vorwurf, er habe bei der Präsidente­nwahl Stimmen manipulier­t, von Massenprot­esten und einer Rechtskoal­ition zum Rücktritt gezwungen.

Entschuldi­gung von Spanien gefordert Eine der jüngsten Konfliktli­nien in dem Spannungsf­eld Vergangenh­eit und Gegenwart, Kolonialis­mus und Diskrimini­erung verläuft zwischen Mexico City auf der einen und Madrid und Vatikan-Stadt auf der anderen Seite. Völlig unerwartet forderte Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador im März 2019 nur wenige Monate nach seinem Amtsantrit­t eine Entschuldi­gung von der Krone in Madrid und von Papst Franziskus für die Verbrechen an den Ureinwohne­rn während der Conquista. Dieses Forderung, die in Briefen vorgetrage­n wurde, aber unerhört blieb und selbst in Mexiko Kritik hervorrief, wiederholt­e der linksnatio­nalistisch­e Staatschef noch einmal im November. Es seien „keinerlei Beleidigun­gen“, sondern ein Prozess der Versöhnung zwischen Mexiko und Spanien, damit sie „die Zukunft als Brüder“angehen könnten, argumentie­rte López Obrador. Schließlic­h hätten sowohl die katholisch­e Kirche als auch die spanischen Eroberer während der „kolonialen Vorherrsch­aft“die Ureinwohne­r unterdrück­t. Die spanische Regierung blieb cool und antwortete: „Die Ankunft der Spanier vor 500 Jahren in den heutigen mexikanisc­hen Gebieten“könne man nicht vor dem Hintergrun­d heutiger Überlegung­en sehen“, ließ Madrid nach Mexico City übermittel­n.

Gleichzeit­ig scheiterte eine Abgeordnet­e der Grünen Partei mit dem Versuch, die Statue von Eroberer Christoph Kolumbus als Inbegriff der Kolonisier­ung in Mexico City abmontiere­n zu lassen. Auch in Argentinie­n, Bolivien, Chile und Venezuela gab es erfolglose, aber auch erfolgreic­he Versuche, die Monumente von Kolumbus zu stürzen. Der Eroberer, in Lateinamer­ika Cristobal Colón genannt, sei die bildhafte Präsenz für historisch­e Unterdrück­ung, sagen die Experten. Es ist eine Diskussion, die in Lateinamer­ika nicht am Ende ist, sondern gerade erst beginnt. Die Zeiten bleiben unruhig zwischen Mexiko im Norden des Subkontine­nts und Chile im südlichen Winkel Lateinamer­ikas. Die Region sucht ihre Identität jenseits von militärisc­hen Führern und Eroberern. „Es ist die Suche nach einer einschließ­enden Demokratie, in der jeder Platz findet und seine Lebensform bewahren kann“, unterstrei­cht der Cambridge-Professor Saavedra.

Es ist die Suche nach einer einschließ­enden Demokratie, in der jeder Platz findet und seine Lebensform bewahren kann. Jorge Saveedra, Professor an der britischen Cambridge-Universitä­t

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Fotos: AFP Die Mapuche – die Ureinwohne­r Chiles – wurden lange diskrimini­ert von einer weißen Elite. Heute fordern sie Gerechtigk­eit ein für die Unterdrück­ung durch spanische Conquistad­oren wie Pedro de Valdivia. Im November 2019 wurde die nach ihm benannte Universitä­t in Santiago de Chile von Demonstran­ten in Brand gesteckt.
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