Luxemburger Wort

Das venezianis­che Spiel

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Ich knallte die Tür hinter mir zu und rannte zum vaporetto, das ich gerade noch erreichte. Ich versuchte, meine Haare notdürftig mit den Händen zu glätten, und rieb mir übers Gesicht. Dann sah ich mich in der Kabine um. Die anderen Passagiere lasen Zeitung, beschäftig­ten sich mit ihren Tablets oder telefonier­ten mit ihren Handys. Rucksäcke, Rollkoffer oder unhandlich­e Gepäckstüc­ke waren nirgends zu sehen. Die morgendlic­hen Berufspend­ler. Die meisten von ihnen würden am Bahnhof aussteigen, um von dort aus in größere Städte zu fahren, oder an der Piazzale Roma einen Bus rüber nach Mestre nehmen. Ich blickte aus dem Fenster auf den Canal Grande. Noch keine Gondeln und nur ein paar wenige Wassertaxi­s. Ein Alilaguna-Boot beförderte eine Gruppe Touristen zum Flughafen. Aber größtentei­ls bestand der Verkehr aus den großen Lastkähnen, die etwas anlieferte­n, oder den Müllbooten von Veritas.

Bei Rialto entluden zwei Männer riesige Paletten mit Wasserflas­chen; der auf dem Boot warf jede Flasche einzeln seinem Partner auf der fondamenta zu, der sie scheinbar mühelos fing und neben sich aufstapelt­e. Das war die beste Zeit des Tages. Alle waren auf dem Weg zur Arbeit, und es kam ihnen wahrschein­lich gar nicht in den Sinn, wie schön es doch war, seinen Tag mit einer Bootsfahrt zu beginnen. Ja. Die beste Zeit des Tages. Dann erblickte ich mein Spiegelbil­d im Fenster und dachte, wie viel besser es doch gewesen wäre, wenn ich mich rasiert hätte.

Ein venezianis­cher Freund hatte die Gegend rund um den Bahnhof einmal mit einem orientalis­chen Wochenmark­t verglichen. An hektischen Sommertage­n, wenn illegale Gepäckträg­er um das Geschäft mit den Touristen wetteifert­en, die aus dem Bahnhof kamen, und Kitschverk­äufer die fondamenta säumten, um den Unbesonnen­en gestohlene oder nutzlo- se Ware zu verkaufen, konnte ich verstehen, was er meinte. Morgens um Viertel vor acht jedoch waren hier hauptsächl­ich Menschen auf dem Weg zur Arbeit unterwegs. Federica stand auf der Treppe und winkte mir zu, als sie mich in der Menge entdeckte. Als ich näher kam, verzog sie allerdings das Gesicht, und als ich versuchte, sie zur Begrüßung auf die Wange zu küssen, schob sie mich weg.

„Was ist denn mit dir passiert?“„Tut mir leid, ich hab verschlafe­n. Dario hat mich nicht geweckt.“

„Du siehst aus, als hättest du in deinen Klamotten übernachte­t. Lass mich raten, ihr habt noch einen draufgemac­ht, nachdem ich weg war?“

„Wir haben nur noch die Flasche geleert und ein bisschen Pink Floyd gehört, das war alles“, antwortete ich gekränkt.

„Du hättest dich wenigstens rasieren können. Was soll denn der Mann denken, wenn ich irgendeine­n abgerissen­en Kerl mitbringe, um mit ihm zu sprechen?“

„Na schön, vielleicht kann ich mich noch ein bisschen auf Vordermann bringen, wenn wir am Bahnhof in Florenz an- kommen. Haben wir schon Fahrkarten?“

„Haben wir. Du kannst mir das Geld später geben. Jetzt müssen wir uns etwas ranhalten, wir haben nur noch fünf Minuten.“

Die Italiener beklagten sich oft über die Bahn. Warum, war mir schon immer ein Rätsel. Mir erschienen die Züge stets pünktlich, relativ bequem und nicht übertriebe­n teuer. Zu- gegeben, es bestand jederzeit das Risiko eines Streiks, der einen irgendwo weit entfernt von zu Hause stranden ließ, aber im Großen und Ganzen fand ich es sehr angenehm, auf diese Weise zu reisen. Meine italienisc­hen Freunde konnten das nie verstehen. Zumindest bis sie aus dem Urlaub aus Großbritan­nien zurückgeko­mmen waren.

Federica ließ sich auf ihrem Platz nieder, lehnte das Gesicht an die Scheibe und schloss die Augen. „Schlaf gut, Nathan. Weck mich in Florenz.“

„Moment mal, müssen wir nicht über alles Mögliche sprechen?“

Sie schlug ein Auge auf „Worüber denn?“

„Über den Mann, den wir aufsuchen wollen. Über seinen Bellini. Über so was halt.“

„Ach so, über so was halt.“Sie gähnte. “Ich bin sicher, das hast du alles schon gut überdacht. Und jetzt möchte ich gerne schlafen.“

Ich hatte nichts zu lesen dabei. Es war keine Zeit mehr gewesen, eine Zeitung zu kaufen. Also konnte ich ebenso gut auch ein Schläfchen halten. Ich stellte den Wecker meines Handys, damit es mich zehn Minuten vor der Ankunft weckte. Dann schloss ich die Augen, lehnte den Kopf zurück und versuchte, mir irgendetwa­s Vernünftig­es zu überlegen, das ich den Mann in Florenz fragen konnte. Da fiel mir auf, dass ich noch nicht einmal seinen Namen kannte.

Es war kurz nach zehn, als wir in Florenz ankamen. Federica erklärte mir, dass Gianluca Rossi ein kleines Geschäft unweit der Piazza del Duomo besitze und dass ich nirgendwo hinginge, bevor ich mich nicht rasiert hätte. Ich kaufte in der farmacia gegenüber dem Bahnhof ein Päckchen Einwegrasi­erer und schabte in der Bahnhofsto­ilette weg, was wegzuschab­en war. „Besser?“

Sie legte den Kopf zur Seite. „Erträglich.“

Wir machten uns auf den Weg. Florenz präsentier­te sich hell und sonnig. Es war zwar noch ein bisschen kühl, aber ich genoss es, einmal aus Venedig mit seiner allumfasse­nden Feuchtigke­it fort zu sein.

„Wie geht es Dario heute Morgen?“

„Dem geht’s gut. Ich habe ihm gewisserma­ßen meinen Posten übertragen.“

„Wirklich? Glaubst du, das Büro steht noch, wenn du zurückkomm­st?“

„Oh, unterschät­z ihn nicht. Er ist ein cleverer Bursche. Er ist schon mal mit dem Motorrad über die Zattere gerast.“

„Genau der Richtige also für eine Aufgabe, die Feingefühl und Zurückhalt­ung erfordert.“

Wir gingen eine Weile schweigend weiter. Es war fast zwanzig Jahre her, dass ich zum ersten Mal in Florenz gewesen war. Es hatte mir noch nie so gut gefallen, wie es das vielleicht verdient hätte. Es war schön, sicher. Wahrschein­lich gab es hier mehr Kunstschät­ze pro Quadratmet­er als sonst irgendwo auf der Welt.

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