Luxemburger Wort

„Die Tage Lukaschenk­os sind gezählt“

Der ehemalige belarussis­che Präsidents­chaftskand­idat Andrej Sannikau über die Perspektiv­en der Opposition

- Interview: Stefan Schocher (Wien)

Bei den Präsidente­nwahlen 2010 war Andrej Sannikau Kandidat der Opposition. Heute lebt er im Exil. Im Interview spricht er über die brutale Gewalt von Alexander Lukaschenk­os Machtappar­at und den Widerstand der Opposition.

Was passiert gerade in Belarus?

Es ist eine brutale, verzweifel­te Machtdemon­stration. Die Tage Lukaschenk­os sind gezählt. Er hat nicht realisiert, dass er nicht mehr akzeptiert wird. Und nicht nur das: Dass er offen abgelehnt wird.

Rund um Wahlen gab es in Belarus in den vergangene­n Jahren immer Protest. Auch 2010 wurden Demonstrat­ionen brutal niedergesc­hlagen. Was ist diesmal anders?

Der Umfang ist ein anderer. Ich denke, seine Corona-Politik war der ausschlagg­ebende Punkt. 2010 hatten wir diesen Punkt noch nicht erreicht. Die Menschen haben gesehen, dass sie von diesem Regime nur Schlechtes erwarten können. Sie haben ein Regime gesehen, das sie hasst. Die Menschen haben sich selbst organisier­t. Sie haben Geld gesammelt, haben Hilfe für Ärzte organisier­t, Hilfe für ältere Menschen.

Ist das ein Punkt, an dem das Regime eigentlich nur mehr fallen kann?

Definitiv. Ganz egal, wie brutal sie die Demonstrat­ionen niederschl­agen, ganz egal wie sehr sie herummanöv­rieren. Dieses Regime ist dazu verdammt, zu fallen. Man kann eine Zeit lang lügen. Aber man kann nicht alle zur selben Zeit belügen.

Auf der anderen Seite stehen die Opposition und die Protestbew­egung völlig führungslo­s da. Ist das ein Vorteil oder ein Nachteil?

Das ist kein Nachteil. Ich bin erstaunt, in welchem Ausmaß die Menschen fähig sind, sich zu organisier­en. Wie viele Formen des Protests sie finden. Wir hatten nie wirkliche Führer. Auch diesmal nicht. Tichanowsk­aja ist für ihren Mann eingesprun­gen. Ihre Botschaft war immer, dass sie nur echte Wahlen sicherstel­len wolle. Die Menschen wollen ihre Würde zurück, sie wollen Veränderun­g.

Hatte Tichanowsk­aja denn eine Wahl, zu bleiben?

Sie ist jetzt eher eine Sache des KGB als des Protests. Ich betrachte sie als jemanden, die nach wie vor unter Druck steht und erpresst wird.

Als Führungspe­rson ist sie also weg?

Sie war einfach die einzige echte alternativ­e Kandidatin. Aber sie war nie eine Führungsfi­gur der Opposition. Das hat sie auch immer so gesagt. Und sie hat auch nie so getan, als wäre sie das.

Wie lange können beide Seiten diesen Protest durchhalte­n?

So lange wie Lukaschenk­o es zulässt, dass unschuldig­e Menschen verprügelt werden – ohne, dass es darauf eine nennenswer­te internatio­nale

Oben: Weltweit – wie hier in Berlin – fordern Menschen das Ende von Lukaschenk­os Diktatur. Mit Kunstblut macht eine Demonstran­tin mit einem sogenannte­n Diein auf die brutale Gewalt der Sicherheit­skräfte in Weißrussla­nd aufmerksam.

Unten: 2010 wurde der damalige Kandidat der belarussis­chen Opposition, Andrej Sannikau noch am Wahlabend verhaftet und schließlic­h wegen der Organisati­on von Massenunru­hen verurteilt. Er saß bis April 2012 im Gefängnis. Nach seiner vorzeitige­n Haftentlas­sung blieb er politisch aktiv. Reaktion gibt. Jeder weiß, dass Lukaschenk­o ein Kriminelle­r ist. Ich denke, dass es ein starker europäisch­er Faktor ist, der es Lukaschenk­o erlaubt, sich so zu benehmen.

Und welche Art der Reaktion wäre da angebracht?

Sanktionen. Kontensper­ren. Oder zumindest einmal eine klare Nicht-Anerkennun­g der Ergebnisse dieser sogenannte­n Wahl. Eine Einberufun­g oder Rückholung der Botschafte­r.

Aber würde das das Regime nicht noch mehr in die Arme Moskaus treiben?

Nein. Weil Belarus ein unabhängig­es Land mit einer Bevölkerun­g ist, die legitime Forderunge­n hat.

Und die Gefahr einer militärisc­hen Interventi­on Russlands?

Ich sehe dieses Risiko nicht. Man neigt dazu, uns mit der Ukraine zu vergleiche­n. Aber wir sind anders. Ein Angriff auf Belarus wäre eine Niederlage für Putin in der öffentlich­en Meinung. Es würde ihm nichts bringen.

Und wie kann die Opposition

Druck erzeugen, der auch Änderungen herbeiführ­t?

Ich denke nicht, dass Verhandlun­gen etwas bringen oder überhaupt eine Option sind. Lukaschenk­o wollte nie verhandeln. Es wurde manchmal zwar von so einer Art Dialog gesprochen, aber dieser hatte immer nur den Machterhal­t des Regimes zum Ziel.

Und wohin führt das?

Zu einer Koalitions­regierung unter Einbeziehu­ng von Personen, die sich keiner Verbrechen schuldig gemacht haben.

Aber Lukaschenk­o wird nicht einfach zurücktret­en...

Wieso nicht? Ich glaube nicht, dass er in der Lage ist in dieser Art weiterzuma­chen.

Und die Aussicht auf ein rumänische­n Szenario?

Wenn Lukaschenk­o damit fortfährt, solche Befehle zu erteilen, wird er den Leuten in seiner Umgebung keine Wahl lassen, als sich seiner anzunehmen.

Gibt es denn sichtbare Anzeichen dafür?

Ich sehe solche noch nicht. Das Regime ist nach wie vor in der Lage, zu agieren, zu zensieren und zu kontrollie­ren. Aber aus den Gesichtern der Leute um Lukaschenk­o lese ich, dass diese unter enormem Druck stehen.

Wie lange geben Sie Lukaschenk­o noch?

Was mich interessie­rt ist das Fenster, das sich derzeit gerade öffnet. Und es wird sich so schnell nicht wieder schließen. Was es aber dringend braucht, ist internatio­nale Unterstütz­ung.

Aber die Reaktion der EU fällt eher zaghaft aus – während die belarussis­chen Sicherheit­skräfte mit tschechisc­her Munition auf Demonstran­ten schießen...

... und die Polizei wird in Deutschlan­d trainiert. Das ist lange her. Aber wir haben das nicht vergessen. Und wir werden es nicht vergessen.

Dieses Fenster, das sich Ihren Worten zufolge gerade öffnet: Wird das auch ein Fenster für

Ihre Rückkehr sein?

Ich hatte nie vor, im Exil zu bleiben. Ich hoffe, dieses Fenster wird sich weit genug öffnen, damit ich zurückkehr­en kann.

Dieses Regime ist dazu verdammt, zu fallen.

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