„Die Tage Lukaschenkos sind gezählt“
Der ehemalige belarussische Präsidentschaftskandidat Andrej Sannikau über die Perspektiven der Opposition
Bei den Präsidentenwahlen 2010 war Andrej Sannikau Kandidat der Opposition. Heute lebt er im Exil. Im Interview spricht er über die brutale Gewalt von Alexander Lukaschenkos Machtapparat und den Widerstand der Opposition.
Was passiert gerade in Belarus?
Es ist eine brutale, verzweifelte Machtdemonstration. Die Tage Lukaschenkos sind gezählt. Er hat nicht realisiert, dass er nicht mehr akzeptiert wird. Und nicht nur das: Dass er offen abgelehnt wird.
Rund um Wahlen gab es in Belarus in den vergangenen Jahren immer Protest. Auch 2010 wurden Demonstrationen brutal niedergeschlagen. Was ist diesmal anders?
Der Umfang ist ein anderer. Ich denke, seine Corona-Politik war der ausschlaggebende Punkt. 2010 hatten wir diesen Punkt noch nicht erreicht. Die Menschen haben gesehen, dass sie von diesem Regime nur Schlechtes erwarten können. Sie haben ein Regime gesehen, das sie hasst. Die Menschen haben sich selbst organisiert. Sie haben Geld gesammelt, haben Hilfe für Ärzte organisiert, Hilfe für ältere Menschen.
Ist das ein Punkt, an dem das Regime eigentlich nur mehr fallen kann?
Definitiv. Ganz egal, wie brutal sie die Demonstrationen niederschlagen, ganz egal wie sehr sie herummanövrieren. Dieses Regime ist dazu verdammt, zu fallen. Man kann eine Zeit lang lügen. Aber man kann nicht alle zur selben Zeit belügen.
Auf der anderen Seite stehen die Opposition und die Protestbewegung völlig führungslos da. Ist das ein Vorteil oder ein Nachteil?
Das ist kein Nachteil. Ich bin erstaunt, in welchem Ausmaß die Menschen fähig sind, sich zu organisieren. Wie viele Formen des Protests sie finden. Wir hatten nie wirkliche Führer. Auch diesmal nicht. Tichanowskaja ist für ihren Mann eingesprungen. Ihre Botschaft war immer, dass sie nur echte Wahlen sicherstellen wolle. Die Menschen wollen ihre Würde zurück, sie wollen Veränderung.
Hatte Tichanowskaja denn eine Wahl, zu bleiben?
Sie ist jetzt eher eine Sache des KGB als des Protests. Ich betrachte sie als jemanden, die nach wie vor unter Druck steht und erpresst wird.
Als Führungsperson ist sie also weg?
Sie war einfach die einzige echte alternative Kandidatin. Aber sie war nie eine Führungsfigur der Opposition. Das hat sie auch immer so gesagt. Und sie hat auch nie so getan, als wäre sie das.
Wie lange können beide Seiten diesen Protest durchhalten?
So lange wie Lukaschenko es zulässt, dass unschuldige Menschen verprügelt werden – ohne, dass es darauf eine nennenswerte internationale
Oben: Weltweit – wie hier in Berlin – fordern Menschen das Ende von Lukaschenkos Diktatur. Mit Kunstblut macht eine Demonstrantin mit einem sogenannten Diein auf die brutale Gewalt der Sicherheitskräfte in Weißrussland aufmerksam.
Unten: 2010 wurde der damalige Kandidat der belarussischen Opposition, Andrej Sannikau noch am Wahlabend verhaftet und schließlich wegen der Organisation von Massenunruhen verurteilt. Er saß bis April 2012 im Gefängnis. Nach seiner vorzeitigen Haftentlassung blieb er politisch aktiv. Reaktion gibt. Jeder weiß, dass Lukaschenko ein Krimineller ist. Ich denke, dass es ein starker europäischer Faktor ist, der es Lukaschenko erlaubt, sich so zu benehmen.
Und welche Art der Reaktion wäre da angebracht?
Sanktionen. Kontensperren. Oder zumindest einmal eine klare Nicht-Anerkennung der Ergebnisse dieser sogenannten Wahl. Eine Einberufung oder Rückholung der Botschafter.
Aber würde das das Regime nicht noch mehr in die Arme Moskaus treiben?
Nein. Weil Belarus ein unabhängiges Land mit einer Bevölkerung ist, die legitime Forderungen hat.
Und die Gefahr einer militärischen Intervention Russlands?
Ich sehe dieses Risiko nicht. Man neigt dazu, uns mit der Ukraine zu vergleichen. Aber wir sind anders. Ein Angriff auf Belarus wäre eine Niederlage für Putin in der öffentlichen Meinung. Es würde ihm nichts bringen.
Und wie kann die Opposition
Druck erzeugen, der auch Änderungen herbeiführt?
Ich denke nicht, dass Verhandlungen etwas bringen oder überhaupt eine Option sind. Lukaschenko wollte nie verhandeln. Es wurde manchmal zwar von so einer Art Dialog gesprochen, aber dieser hatte immer nur den Machterhalt des Regimes zum Ziel.
Und wohin führt das?
Zu einer Koalitionsregierung unter Einbeziehung von Personen, die sich keiner Verbrechen schuldig gemacht haben.
Aber Lukaschenko wird nicht einfach zurücktreten...
Wieso nicht? Ich glaube nicht, dass er in der Lage ist in dieser Art weiterzumachen.
Und die Aussicht auf ein rumänischen Szenario?
Wenn Lukaschenko damit fortfährt, solche Befehle zu erteilen, wird er den Leuten in seiner Umgebung keine Wahl lassen, als sich seiner anzunehmen.
Gibt es denn sichtbare Anzeichen dafür?
Ich sehe solche noch nicht. Das Regime ist nach wie vor in der Lage, zu agieren, zu zensieren und zu kontrollieren. Aber aus den Gesichtern der Leute um Lukaschenko lese ich, dass diese unter enormem Druck stehen.
Wie lange geben Sie Lukaschenko noch?
Was mich interessiert ist das Fenster, das sich derzeit gerade öffnet. Und es wird sich so schnell nicht wieder schließen. Was es aber dringend braucht, ist internationale Unterstützung.
Aber die Reaktion der EU fällt eher zaghaft aus – während die belarussischen Sicherheitskräfte mit tschechischer Munition auf Demonstranten schießen...
... und die Polizei wird in Deutschland trainiert. Das ist lange her. Aber wir haben das nicht vergessen. Und wir werden es nicht vergessen.
Dieses Fenster, das sich Ihren Worten zufolge gerade öffnet: Wird das auch ein Fenster für
Ihre Rückkehr sein?
Ich hatte nie vor, im Exil zu bleiben. Ich hoffe, dieses Fenster wird sich weit genug öffnen, damit ich zurückkehren kann.
Dieses Regime ist dazu verdammt, zu fallen.