Zwischen Ungewissheit und Hoffnung
Die belarussische Opposition ist in Zugzwang geraten – Russland warnt vor Einmischung
Jan ist müde. Jan will schlafen. Jan hat genug. Erst Prügel, dann Euphorie, jetzt diese sonderbare Ruhe und die sich zugleich mehr und mehr manifestierende Angst, dass es das nicht gewesen sein kann. „Wir sind nicht mehr in diesem alten Land, aber noch nicht angekommen in dem Neuen“, sagt er.
Das Regime Lukaschenko sitzt auch nach fast zwei Wochen Dauerprotest fest im Sattel – wenn auch mit Schrammen. Und nach intensiven zwei Wochen, mit all ihren Aufs und Abs; nach Tagen, in denen sich im Stundentakt die Aussichten änderten von „alles wird gut“zu „es wird Krieg geben“und nun einigen Tagen Ruhe wird ein nächster Zug fällig. Denn nur eines ist gewiss, wie Jan sagt: Die Rache des Regimes, wenn nichts passiert.
Inzwischen hat es Lukaschenko mit einer sich formierenden Opposition zu tun – wobei noch lange nicht ausgemacht ist, ob ihm das nicht letztlich helfen könnte. Oppositionskandidatin Svetlana Tikhanouskaya hat einen Oppositionsrat einberufen, eine Art Schattenbzw. Übergangsregierung. Und sie ruft die Sicherheitskräfte dazu auf, die Seiten zu wechseln. Eine Kriegserklärung.
Oppositionskandidatin hat wenig Einfluss auf Proteste
Sie selbst ist aber nach wie vor in Litauen. Auf die Proteste hat sie wenig Einfluss. Und hinzu kommt, dass die belarussische Opposition einem Minenfeld gleicht. Bei vorangegangenen Wahlen hatte es die Opposition in steter Regelmäßigkeit kaum geschafft, sich auf gemeinsame Kandidaten zu einigen
– wobei deren Los ohnehin vorentschieden war: Haft oder Exil. Und in den Reihen der parteipolitisch organisierten Opposition regt sich bereits Widerstand gegen Tikhanouskaya. Die Opposition ist aber in Zugzwang, den Druck zu erhöhen. Sonst droht alles im Sand zu verlaufen.
Aber auch das Regime kann nicht entspannt auf Zeit spielen. Streiks in Staatsbetrieben setzen der Wirtschaft schwer zu. Und auch der Sicherheitsapparat, allen voran die Armee, hatte Zerfallserscheinungen
gezeigt. Dass Lukaschenko jetzt sowohl im Osten des Landes wie auch im Westen Militärmanöver abhalten lässt, sieht zwar aus wie eine Drohgebärde, könnte aber einen sehr trivialen Grund haben: Was Lukaschenko derzeit keinesfalls braucht, sind gelangweilte Soldaten, die nichts anderes zu tun haben, als die politischen Entwicklungen im eigenen Land zu verfolgen.
Russland warnt den Westen vor Einmischung
Inzwischen dürfte Russland PRStrategen nach Minsk entsandt haben, um Zerfallserscheinungen in belarussischen Propagandamedien abzufangen. Dass das belarussische Staatsfernsehen zuletzt einmal neutral und ausgewogen über Proteste berichtete, war eine Sensation. Nicht bekannt ist, ob inzwischen auch russische Spezialeinheiten in Belarus sind. Es gab Berichte über Sonderpolizei-Einheiten ohne Kennzeichnung, die zumindest in Richtung Belarus unterwegs waren.
Russland jedenfalls warnt vor allem in Richtung Westen vor einer Einmischung – während die Lage dem Kreml aber gehörig Kopfschmerzen bereitet: Lukaschenko wäre derzeit billig zu haben, mit offener Unterstützung für das Regime würde man aber die an sich nicht anti-russisch eingestellte belarussische Bevölkerung vergraulen. Ebenso mit einer Intervention.
Zugleich ist Belarus aber für Moskau von enormer strategischer Bedeutung. Zuwarten also? Je breiter der Protest in Belarus wird, desto mehr wird er auch zum Beispiel für Russland selbst – und der Kreml hat es im fernen Osten des Landes bereits mit einer hartnäckigen Protestbewegung zu tun. Knapp vor seiner Erkrankung oder Vergiftung hatte auch der russische Oppositionspolitiker Alexei Navalny über Belarus als Beispiel für Russland geschrieben.
Die Ruhe der vergangenen Tage in Weißrussland dürfe jedenfalls nur vorübergehend sein: Am Donnerstag sorgte ein Video von einem Polizeieinsatz in Minsk für Aufsehen. Aufgenommen worden war es angeblich in den Morgenstunden des Donnerstag in einem Vorort der Hauptstadt. Zu sehen ist ein Polizeitrupp, der in eine Wohnsiedlung einfällt, einen Mann niederschlägt und abführt. Zuletzt hatte die Polizei wieder verstärkt Präsenz gezeigt. Aktionen wie diese hatte es aber kaum mehr gegeben. Verschwunden ist die Angst aber noch lange nicht.
Nur eines ist gewiss: Die Rache des Regimes, wenn nichts passiert. Demonstrant Jan