Ein Leben lang weggesperrt
Die Toskana hütet das Graffiti-Vermächtnis des Psychiatriepatienten Fernando Oreste Nannetti
Plötzlich durchpeitscht ein Schuss die Stille der von der Hitze geradezu erstarrten Luft. Dann noch einer. In der Ferne ist Hundegebell zu hören, gedämpft von den morgendlichen Nebelbänken, die sich ans Land schmiegen und aus den Tälern langsam die Hügel hochkriechen. Der Herbst kündigt sich in der Toskana an, auch wenn das Wetter über den Tag hinweg noch geradezu hochsommerlich scheint. Die Jagdsaison ist eröffnet, „cinghiale“, Wildschwein, ist aus der kulinarischen Tradition der beliebten Touristendestination nicht wegzudenken – und bei Besuchern und Einheimischen gleichermaßen beliebt.
Ein kalter Schauer läuft dem Besucher den Rücken hinunter – jedoch nicht wegen der Tiere, die irgendwo da draußen im Dickicht ihre letzten Atemzüge tun, sondern weil er ganz genau weiß, dass er hier eigentlich gar nicht sein dürfte. Schließlich hat er sich ja gerade erst durch das kleine Schlupfloch im meterhohen Zaun mit Stacheldrahtkrone durchgeschlängelt, nachdem er zuvor sein Gefährt sorgfältig unauffällig etwas weiter weg abgestellt hat. Diskret, unsichtbar bleiben – nur keinen Verdacht wecken ...
Man muss kein Italienisch können, um die Botschaft der Schilder an der Abzäunung zu verstehen: Das Betreten des Grundstücks ist strikt verboten. Es wird mit Strafe gedroht. Eine Warnung, die man, nach kurzem Abwägen dennoch wissentlich in den Wind schlägt, auch wenn man von der Gefahr weiß und sich vornimmt, besondere Vorsicht walten zu lassen: Ertappt zu werden, ist bei Weitem nicht das Schlimmste, das einem hier passieren kann, bei Unachtsamkeit drohen Verletzungen, bei Übermut sogar Lebensgefahr. Doch zu groß sind die Neugier und der Reiz, etwas Verborgenes und Einzigartiges zu entdecken: eine „lost place“.
Wie ein Hollywood-Horrorfilm
Dieser verlorene, sprich verlassene Ort in der Nähe der italienischen Stadt Volterra ist eine makabre Attraktion mit noch gruseliger Geschichte: Das 1888 eröffnete und 1978 endgültig geschlossene Ospedale Psichiatrico di Volterra war nämlich lange das Heim des Patienten Fernando Oreste Nannetti, der sich N.O.F. 4 bzw. Nanof nannte. Und der
Weg zu beiden führt vorbei an Heckicht und Brennnesselsträuchern, die wie standhafte Wächter Eindringlinge fernzuhalten versuchen, bis hin zur verwilderten Baumallee, die nichts Majestätisches mehr hat, und über deren Kronen plötzlich bedrohliche Gebäude auftauchen.
Turbulent, unberechenbar, launisch – so wird der zehnjährige Fernando Oreste beschrieben. Was eigentlich nach ziemlich normaler Kindheit klingt, bringt dem italienischen Jungen jedoch ein Leben in der Psychiatrie ein. Und diese ist 1937, als er erstmals eingewiesen wird, nicht das, was man heute darunter versteht – nämlich eine Institution, in der an einem psychischen Leiden erkrankte Menschen behandelt werden, sondern geradezu das Sinnbild der Irrenanstalt, wie sie der schlimmste Hollywood-Horrorstreifen erfinden könnte.
Hier werden Leidende einfach weggesperrt, mit brutalsten Methoden – Elektroschocks, Eisbäder, Isolation, medikamentöse Keule – bis hin zum Koma ruhiggestellt, und der Schlüssel, zumindest symbolisch, weggeworfen.
Einen Schlüssel sucht auch der wagemutige Besucher, um in Fernandos Welt einzutauchen. Vergeblich. Doch kann er zumindest durch ein winziges Schlüsselloch das sich dahinter verbergende komplexe Universum erspähen – dank Fernando selbst, der in einer ungewöhnlichen Chronik zahlreiche geheimnisvolle Spuren hinterlassen hat.
Der Vater verlässt den am 3. Oktober 1927 in Rom Geborenen und seine Mutter Concetta, als er noch ein Knirps ist. Mit sieben wird er in ein Waisenheim in Pflege gegeben und kommt drei Jahre später in eine geschlossene Anstalt, weil er sein Umfeld überfordert. Als er, nachdem er 1942 zeitweilig entlassen wurde, jedoch 1956 in Rom einen Gemeindebeamten beleidigt, kommt er 1956 erst dort ins Santa Maria della Pietà und zwei Jahre später in das frühere Armenhaus des Klosters von San Girolamo in Volterra. Beim von der Trennung der Eltern traumatisierten und danach regelrecht abgeschobenen Jungen wird als Erwachsener Schizophrenie diagnostiziert. Er leidet an Halluzinationen und Verfolgungswahn, zieht sich zurück und kommuniziert fast nicht mehr mit seiner Außenwelt.
Trafeli, früherer Pfleger in der Anstalt, dem Filmemacher Pier Nello Manoni im Interview für seinen Kurzfilm „Nannetti Oreste Fernando N.O.F. 4“, den er 2019 bei der Raw Vision Video Competition einreichte. Manonis Bilder erzählen nicht nur von Fernandos ebenso tragischem wie traurigem Schicksal, sie zeigen auch das seiner Mitbewohner.
Viele von ihnen liegen heute unweit des verlassenen Gebäudekomplexes auf einem kleinen Friedhof begraben. Keine Namen zieren die Grabmarkierungen dieser verlorenen Existenzen, nur Nummern, die das letzte Fünkchen Menschlichkeit ihrer sterblichen Überreste auslöschen. Beklemmend endgültiger als dort kann der Tod nicht sein.
„Er sprach nie und mit niemandem über seine Gedanken“, erinnert sich Trafeli weiter. Neun Jahre lang benutzt Nannetti aber die Metallschnalle des Gürtels seiner Patientenjacke, um über 70 Meter Länge und bis anderthalb Meter Höhe den Putz des Ferri-Gebäudeblocks mit kuneiform anmutenden Zeichen zu übersäen.
Bei genauerem Betrachten der Inschriften entdeckt man vertraut scheinende Worte – „Fernseher“, „Rakete“– und glaubt, Zeichnungen zu erkennen – ein Flugzeug, ein Panzer, gar ein Ufo – doch was sie wirklich bedeuten, weiß man nicht. Das Geheimnis seines Vermächtnisses, dieser Hunderte Meter gedrungener Inschriften, nimmt
Fernando mit in sein Grab, als er 1994 in Volterra stirbt. Er war 1974 zuvor ebendort ins Institut Bianchi und später eine andere lokale Institution überwiesen worden. Was die meisten unter einem „normalen“Leben verstehen, hat er nie gekannt ...
Aus heutiger Sicht fügt sich Nannettis Arbeit in den „Art brut“, wie ihn der französische Maler Jean Dubuffet (1901-1985), der sich ab 1945 für diese künstlerische Ausdrucksform interessierte, definierte: eine „opération artistique toute pure, brute, réinventée dans l’entier de toutes ses phases par son auteur, à partir seulement de ses propres impulsions“. Am 3. April 2009 werden so auch Silikon-Abdrücke von Nannettis Graffitis angefertigt, um in der Sammlung der „Collection de l’art brut“im Château de Beaulieu in Lausanne aufbewahrt zu werden. Nunmehr hat er einen Platz im Museum, das ihm 2011 mit „Nannetti: colonel astral“auch eine Einzelschau widmete.
Jedoch mehr noch als ein Kunstwerk mit tragischer Entstehungsgeschichte sind seine zuweilen wie babylonische Keilschrift anmutenden Zeichen und Zeichnungen heute eine Erinnerung daran, dass der Mensch, getrieben vom Drang, Spuren seiner irdischen Existenz zu hinterlassen, nicht allein dazu geschaffen ist, sich mitzuteilen und in der Gemeinschaft mit Seinesgleichen zu leben, sondern auch, dass Letztere die Verantwortung für jedes einzelne ihrer Mitglieder trägt.