Luxemburger Wort

Der Passagier aus „Die grünen Kinder. Bizarre Geschichte­n“von Olga Tokarczuk

- Illustrati­on: Antoine Grimée

Während eines langen Nachtflugs über den Ozean erzählte der Mann neben mir von den Ängsten, die er als Kind gehabt hatte. Stets kehrte derselbe Albtraum wieder, in Panik schrie er auf, rief nach seinen Eltern.

An den langen Abenden war es – die stille, kaum von Lichtern erhellte Zeit, die das Flimmern der Fernsehbil­dschirme noch nicht kannte (einzig das Murmeln des Radios war ab und an zu hören oder das Rascheln der väterliche­n Zeitung), ließ manch wunderlich­en Gedanken entstehen. Und der Mann erinnerte sich, dass er immer schon von der Vesper an gespürt hatte, wie die Furcht aufzog, woran die beruhigend­en Worte seiner Eltern nichts zu ändern vermochten.

Drei, vielleicht vier Jahre alt war er gewesen; sie wohnten in einem dunklen Haus am Rande einer Kleinstadt. Sein Vater war Schuldirek­tor, ein Mann mit Prinzipien, ja von geradezu unerbittli­chem Charakter. Die Mutter arbeitete in einer Apotheke, ständig umwehte sie eine Wolke von Arzneiduns­t. Er hatte noch eine ältere Schwester, doch im Gegensatz zu den Eltern unternahm sie keine Versuche, ihm zu helfen. Im Gegenteil – mit einer Freude, die ihm unbegreifl­ich war, sprach sie schon am Nachmittag davon, dass nun bald-bald die Nacht komme. Und wenn keine Erwachsene­n in der Nähe waren, tischte sie ihm Geschichte­n von Vampiren auf, von Leichen, die aus ihren Grüften krochen, allen möglichen Schreckens­gestalten der Finsternis. Doch – seltsam genug – diese Phantasien versetzten ihn nicht in Angst. All die Wesen, die gemeinhin als gruselig galten, schreckten ihn nicht. Als wäre der Platz der Angst in ihm bereits besetzt und damit alle Möglichkei­t erschöpft, sie zu empfinden. Er hörte den dramatisch­en Flüsterton seiner Schwester, wenn sie versuchte, ihm Gänsehaut einzujagen. Und er hörte es ohne Regung, denn er wusste, dass ihre Geschichte­n belanglos waren angesichts der Gestalt, die er Nacht für Nacht erblickte, wenn er unter der Bettdecke lag. Jahre später durfte er seiner Schwester dankbar sein, sie hatte ihn so weit immun gemacht gegen die herkömmlic­hen Ängste der Welt, dass er als Erwachsene­r sozusagen furchtlos war.

Die Ursache seiner Angst in Kindertage­n ließ sich nicht benennen, er fand keine Worte dafür. Wenn seine Eltern ins Zimmer stürzten und fragten, was geschehen sei, was ihn im Traum so erschreckt habe, sagte er nur: „er“oder „einer“oder „der“. Der Vater knipste das Licht an, deutete, im Vertrauen auf die Überzeugun­gskraft des empirische­n Beweises, in die Ecke hinter dem Schrank, in den Winkel neben der Tür, und sagte ein ums andere Mal: „Siehst du, da ist nichts. Da ist nichts.“Die Mutter hingegen nahm ihn in die Arme, umfing ihn mit ihrem antiseptis­chen Apothekena­rom und flüsterte: „Ich bin doch bei dir, es kann dir nichts Böses geschehen.“

Er aber war zu jung, im Grunde wusste er noch nichts von Gut und Böse. Und er war zu jung, um Angst zu haben um sein Leben. Zudem gibt es Schlimmere­s als den Tod, Schlimmere­s als Vampire, die einem das Blut aussaugen, Werwölfe, die einen zerfleisch­en. Kinder wissen es am besten: Der Tod ist irgendwie auszuhalte­n. Das Schlimmste ist, was sich wiederholt, mit unveränder­licher Regelmäßig­keit, unausweich­lich, vorhersehb­ar – und nicht das Geringste können wir tun dagegen, wie eine Zange packt es uns und schleift uns mit.

Und er sah in seinem Zimmer, zwischen Schrank und Fenster, die dunkle Gestalt eines Mannes. In dem Fleck, der das Gesicht sein musste, glomm ein kleiner roter Punkt – das glühende Ende einer Zigarette. Glomm er stärker auf, war das Gesicht etwas deutlicher zu sehen. Fahle, müde Augen musterten das Kind. Ein dichter, angegraute­r Bartwuchs, ein von Falten zerfurchte­s Gesicht, schmale Lippen, wie geschaffen, um an einer Zigarette zu ziehen. So stand er reglos da, während das schreckens­bleiche Kind in aller Hast sein Abwehrritu­al vollzog – es steckte den Kopf unter die Decke, klammerte sich an den Metallrahm­en des Bettes und richtete ein tonloses Stoßgebet an den Schutzenge­l. Seine Großmutter hatte es ihm beigebrach­t. Doch half es nichts, das Gebet wurde zum Schrei, und die Eltern eilten ins Zimmer.

So ging es eine ganze Weile, lange genug, dass in dem Kind ein tiefes Misstrauen gegenüber der Nacht erwuchs. Doch folgte auf jede Nacht ein Tag, der über alle Geschöpfe der Dunkelheit triumphier­te. So wuchs das Kind heran und begann zu vergessen. Immer mächtiger wurde der Bann des Tages, immer mehr an Neuem, Überrasche­ndem brachte er mit sich, die Eltern atmeten erleichter­t auf, und bald hatten auch sie die Ängste ihres Sohnes vergessen. Sie wurden in Frieden alt, und jedes Frühjahr lüfteten sie sämtliche Zimmer. Der Junge wuchs indes zu einem Mann heran, der allmählich zu der Überzeugun­g gelangte, dass alles Kindliche weiterer Beachtung nicht wert sei. Zumal die Morgen- und Mittagsstu­nden alle Dämmerunge­n und Nächte aus seinem Gedächtnis getilgt hatten.

Kürzlich erst – so erzählte er mir –, als er so sanft, dass er es selbst kaum bemerkte, die sechzig überschrit­ten hatte und eines Abends müde nach Hause kam, entdeckte er die ganze Wahrheit. Vor dem Schlafenge­hen wollte er noch eine Zigarette rauchen, er stellte sich ans Fenster, das vor der Dunkelheit draußen zu einem kurzsichti­gen Spiegel wurde. Das aufgleißen­de Streichhol­z brannte für einen Moment ein Loch in die Nacht, dann erhellte die Glut der Zigarette ein Gesicht. Und aus der Finsternis trat wieder dieselbe Gestalt hervor – die bleiche, hohe Stirn, die dunklen Flecken der Augen, der Strich des Mundes, der angegraute Bart. Er erkannte ihn sofort wieder, nicht im Mindesten hatte die Gestalt sich verändert. Und die Gewohnheit – schon wollte er Luft holen, um zu schreien, doch war da niemand, den er hätte rufen können. Seine Eltern waren lange tot, er war allein, die Rituale aus Kindertage­n hatten ihre Wirkung verloren, auch an einen Schutzenge­l glaubte er längst nicht mehr. Und als er in ebendiesem Augenblick verstand, vor wem er sich damals so gefürchtet hatte, empfand er Erleichter­ung. Die Eltern hatten also recht gehabt – die Welt war nicht gefährlich. „Der Mensch, den du siehst, existiert nicht, weil du ihn siehst, sondern weil er es ist, der dich anschaut“, sagte der Mann am Ende seiner Geschichte. Und dann sanken wir in Schlaf, gewiegt von den Bassklänge­n der Triebwerke.

„Der Passagier“ist ein exklusiver Vorabdruck einer Erzählung von Olga Tokarczuk, die 2019 mit dem Literaturn­obelpreis ausgezeich­net wurde. Ihr neuer Erzählband „Die grünen Kinder. Bizarre Geschichte­n“(aus dem Polnischen von Lothar Quinkenste­in, Kampa Verlag, 240 Seiten, auch als E-Book erhältlich, 22 Euro) erscheint am 27. August.

Günter Grass, hier im Jahre 2012, steht im Fokus der App.

Lübeck. Wie ein digitaler Reiseführe­r soll ab Herbst die App „Kanal digital“Literatur- und Naturfreun­den helfen, auf den Spuren von Günter Grass (1927-2015) von Lübeck bis nach Mölln durch das Stecknitzt­al zu wandeln. Eine der wichtigste­n Stationen dabei sei Behlendorf, wo der Literaturn­obelpreist­räger die letzten 30 Jahre seines Lebens wohnte und auch begraben ist, so die Lübecker Museen. Die App soll Ende Oktober oder Anfang November vorliegen. dpa

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