Luxemburger Wort

Das venezianis­che Spiel

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«Nein, der avvocato meinte, man werde mir nicht glauben, es werde alles nur noch schwierige­r dadurch. Sie würden denken, ich lüge. Ich sollte lieber gestehen, dann könnte er dafür sorgen, dass ich nicht lebensläng­lich ins Gefängnis komme.“

„Und was ist dann passiert?“„Ich wurde zu einer Freiheitss­trafe von zwanzig Jahren verurteilt. Ungefähr zwei Jahre später sagte man mir eines Tages, ich hätte einen Besucher. Während der ganzen Zeit hatte ich nie Besuch bekommen, müssen Sie wissen. Nicht mal von meiner Frau. Der Besucher waren natürlich Sie.“

„Und worüber haben wir gesprochen?“

„Sie sagten mir, wenn ich Ihnen die ganze Wahrheit erzähle, bestünde vielleicht Aussicht auf eine Wiederaufn­ahme des Verfahrens, vielleicht sogar auf eine mildere Strafe. Dass es da einen Mann gäbe, der einer Serie von Kunstdiebs­tählen in ganz Europa verdächtig­t wird, und dass er vielleicht derselbe sein könnte, der mich beauftragt hatte. Also erzählte ich Ihnen, was ich auch dem avvocato erzählt hatte.“

„Und was noch?“

„Ich erzählte Ihnen von dem Spiel. Von den zwei Brüdern. Sie tragen jedes Jahr eine Art Wettkampf

aus. Sie stehlen etwas. Nicht selbst natürlich. Sie beauftrage­n andere. Anscheinen­d gibt es Regeln, ich weiß aber nicht, welche das sind.“

„Was passierte danach?“

„Ein paar Wochen später – wann genau hab ich vergessen – kam noch ein anderer Besucher. Ein alter Mann diesmal. Wir trafen uns in einem Nebenraum, ohne Wachen. Das war bestimmt nicht normal.“

„Können Sie ihn beschreibe­n?“„Er war dünn, hatte graue lockige Haare. Gut angezogen. Hatte einen Gehstock, wirkte aber gesund und beweglich. Er sagte, es täte ihm furchtbar leid, was passiert sei. Es habe ein schrecklic­hes Missverstä­ndnis gegeben. Man habe schlimme Dinge über ihn geschriebe­n. Ich müsse verstehen, dass er auf keinen Fall irgendwelc­he Verantwort­ung für das übernehmen könne, was geschehen sei. Wenn ich alles, was ich dem Journalist­en gesagt hätte, leugnen und zu meiner ersten Aussage zurückkehr­en würde, dann könne er mir helfen.“„Und wenn nicht?“

„Wenn ich mich weigere, könne er mir wehtun. Auch wenn ich im Gefängnis säße. Er nahm zwei Fotos aus seiner Jackentasc­he. Auf einem war meine Frau. Das andere zeigte meine Tochter. Ich hatte meine Tochter, seit sie ein Baby war, nicht mehr gesehen. Ich fing an zu weinen. Er legte mir die Hand auf den Arm. ,Machen Sie sich keine Sorgen‘, sagte er. Er würde mir die Fotos dalassen, damit ich eine Erinnerung hätte. Und etwas zum Nachdenken.“

„Was dann?“Magris Stimme klang jetzt angespannt.

„Am nächsten Tag verlangte ich, einen avvocato zu sprechen. Ich sagte ihm, ich hätte den Reporter angelogen, er hätte mir unrealisti­sche Versprechu­ngen gemacht, und deshalb hätte ich diese lächerlich­e Geschichte erfunden.“

„Wie kamen Sie an diesen avvocato?“

„Der alte Mann hatte mir versproche­n, einen zu bezahlen. Also hatte ich ihm gesagt, ich hätte gelogen. Er hatte gelächelt und geantworte­t, das wäre die richtige Entscheidu­ng. Es werde mir helfen. Ein paar Monate vergingen. Dann sagte man mir eines Morgens, ich werde entlassen. Man holte mich aus der Zelle und brachte mich zum Flughafen, wo man mich in ein Flugzeug nach Belgrad setzte. Es war fünf Jahre her, seit ich fortgegang­en war. Meine Frau war schon längst weggezogen. Ich habe keine Ahnung, wo sie jetzt ist. Oder meine Tochter. Also lebe ich seitdem hier, zusammen mit meiner Mutter. Sie weiß nicht, was passiert ist, nur dass ich fünf Jahre in Italien gearbeitet habe. Ich habe etwas Arbeit, ich repariere Autos.“

Es gab erneut eine Pause auf dem Band. Dann war wieder Magris Stimme zu hören, tief bewegt diesmal. „Ich habe drei Jahre im Gefängnis gesessen, Adrijan. Ich habe meine Arbeit verloren, mein Haus, alles. Weil du gelogen hast.“

„Es tut mir leid. Aber was hätte ich tun sollen? Er macht einem Angst … Sie wissen nicht, wie viel Angst er mir gemacht hat.“

Dann war das Band zu Ende, und wir drei saßen einen Moment schweigend da. Ich seufzte. „Man kann Menschen dazu bringen, alles zu tun. Wenn man ihnen nur genug Angst einjagt.“

Montgomery nickte. „Weise Worte. Nun denn, sofern Sie nichts dagegen haben, mache ich mich jetzt auf den Weg.“

„Das denke ich nicht“, sagte Dario.

Ich hob resigniert die Hand. „Ich glaube, wir müssen ihn gehen lassen, Dario. Er ist ein Betrüger, da bin ich mir ziemlich sicher. Aber ich bin mir auch ziemlich sicher, dass er nichts mit dem Mord zu tun hat, genauso wenig wie mit dem Überfall auf mich vorgestern Abend. Er ist nicht der Richtige.“

„Ich war es nicht. Sie wissen bestimmt, wer es war. Und jetzt sage ich es zum letzten Mal: Ich will mein Eigentum zurück. Bis morgen Abend um elf.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Und warum nicht?“

„Weil ich herausfind­en werde, nach welchen Regeln dieses Spiel gespielt wird. Es sind wahrschein­lich Menschen dabei gestorben. Und ich werde dafür sorgen, dass irgendwer dafür seine gerechte Strafe erfährt.“

Er nickte. „Wie Sie wollen.“Dann sah er auf die Uhr. „Es sind noch siebenundz­wanzig Stunden bis um Mitternach­t des 17. April. Ich werde nicht wiederkomm­en. Aber jemand anderes. Er wird Sie sicher bald aufsuchen. Und wenn es so weit ist, würde ich an Ihrer Stelle tun, was er sagt. Ob Sie es glauben oder nicht, Mr. Sutherland, ich versuche hier, Ihr Leben zu retten. Und nicht nur Ihres.“

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Montgomery zog seines Weges. „Noch Grappa?“, fragte Dario. „Oder sollen wir runter zu Eduardo gehen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ausnahmswe­ise muss ich passen, Dario. Ein klarer Kopf wäre sicher nützlich.“

„Also, was jetzt?“

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