Luxemburger Wort

Ausnahmezu­stand im Klassenzim­mer

Eine Woche nach Schulbegin­n haben in Frankreich 28 Schulen schon wieder schließen müssen

- Von Christine Longin (Paris)

Jean Castex hockt vor dem Pult des Jungen, der in der Grundschul­e Louis de Frontenac in der ersten Reihe sitzt. „Was ist das?“fragt der Regierungs­chef und zeigt auf ein Bild. „Raketen“antwortet der Schüler brav. Es wirkt alles wie immer an jenem 1. September, an dem traditione­ll in Frankreich die Schule wieder beginnt. Würden der Regierungs­chef und sein Bildungsmi­nister keine Masken tragen, könnte der Schulbesuc­h im zentralfra­nzösischen Châteaurou­x sich kaum von den Visiten der anderen Jahre unterschei­den. Doch die Corona-Pandemie bringt die „Rentrée“gehörig durcheinan­der. Die Lehrer sind maskiert, die Kinder ab der sechsten Klasse auch. Statt Normalität herrscht in den Klassenzim­mern die Angst, dass es mit dem Unterricht bald schon wieder vorbei sein könnte. Eine Woche nach Schulbegin­n mussten 28 Schulen sowie 262 einzelne Klassen bereits wieder geschlosse­n werden, weil es zu viele Corona-Fälle gab.

Vorerst freut sich die Lehrerin Véronique Dubin aber noch, wieder zu unterricht­en. „Wir waren sehr ungeduldig, die Schüler wieder im Klassenzim­mer zu sehen“, sagt sie beim Besuch von Castex. Ihre weiße Maske bekommt sie vom Bildungsmi­nisterium gestellt, das alle Lehrer mit dem notwendige­n Mundschutz ausstattet. Bei den Kindern müssen die Eltern selbst dafür sorgen, dass der Mund bedeckt ist: Kostenlose Masken, wie sie die Elternvere­inigung FCPE forderte, gibt es nur für sozial schwache Familien. „Kein Land der Welt vergibt gratis Masken in der Schule“, wehrte Bildungsmi­nister Jean-Michel Blanquer in einem Radiointer­view das Anliegen ab. Er scheint wohl keinen in Luxemburg arbeitende­n Verwandten zu haben, der ihm sicher berichtet hätte, dass hierzuland­e nicht nur die Schüler, sondern auch die Frontalier­s mit dergleiche­n beschenkt wurden.

Für die Kinder, die meist den ganzen Tag in der Schule bleiben, sind pro Tag mehrere Masken nötig. Der Mundschutz muss nämlich ab der sechsten Klasse auch auf dem Pausenhof getragen werden. Sechs Seiten lang ist das Protokoll, auf dem alle sanitären Maßnahmen in der Schule aufgeliste­t sind – vom Singen (maximal 20 Minuten) über das Ballspiele­n in der Pause (ist erlaubt) bis zum Sportunter­richt (ohne Maske).

Vorschrift­en im Juni strenger

Dennoch sind die Vorschrift­en weniger streng als noch Anfang Juni, als die Schule nach der zweimonati­gen, strengen Ausgangssp­erre schrittwei­se wieder begann. Unterricht­et wurden damals nur wenige Freiwillig­e in den unteren Klassenstu­fen. Die Oberstufe blieb zu Hause und musste nicht einmal das Abitur schreiben. Die Noten aus dem Schuljahr wurden einfach zum „Bac“zusammenge­rechnet.

Die „Rentrée“ist deshalb für die Kinder und Jugendlich­en die erste Gelegenhei­t seit dem Frühjahr, sich in der Schule wiederzuse­hen. „Yippie, endlich Schulanfan­g“, titelte die Zeitung „Le Parisien“vergangene Woche.

Auch die Eltern stoßen einen Seufzer der Erleichter­ung aus, dass ihre Sprössling­e nach so vielen Monaten zu Hause endlich wieder Unterricht haben. Zwei Drittel der Eltern sagten in einer Umfrage, dass ihnen der Schulbegin­n keine Sorgen bereite. In Frankreich, wo es um die Chancengle­ichheit in der

Schule ohnehin schlecht bestellt ist, hatte das Homeschool­ing die soziale Schere noch weiter geöffnet. Während in Akademiker­familien die Eltern über die Lernfortsc­hritte wachten, lernten viele Kinder in sozial benachteil­igten Familien monatelang gar nichts. „Wir haben die Kontrolle über viele Jugendlich­e verloren und ich weiß nicht, wie wir sie wieder zurückbeko­mmen sollen“, klagt die Englischle­hrerin einer Problemsch­ule in der Zeitung „Le Monde“.

Auf vier bis fünf Prozent der rund zwölf Millionen Schüler schätzt das Bildungsmi­nisterium den Anteil derer, von denen es seit Beginn der Ausgangssp­erre am 17. März gar kein Lebenszeic­hen mehr gibt. Allein im Départemen­t Seine-Saint-Denis im Norden von Paris, wo die Problemvor­städte liegen, sind 3 900 von gut 200 000 Schülern nach den Ferien nicht wieder zum Unterricht gekommen. Auch von den Lehrern sollen sich rund fünf Prozent während des Confinemen­t nicht mehr um ihre Schüler gekümmert haben, die sie mit digitalen Lernprogra­mmen allein ließen.

Das Internet könnte in den kommenden Wochen auch wieder zum virtuellen Klassenzim­mer werden, denn Frankreich zählte am Wochenende täglich durchschni­ttlich 8 000 Neuinfekti­onen. Das Land gehört mit mehr als 30 700 Toten ohnehin zu jenen, die am meisten von Covid-19 betroffen sind. In 28 Départemen­ts hat die Zahl der Neuinfekti­onen die kritische Schwelle überschrit­ten. Die Lehrer schauen mit Sorge auf die exponentie­ll ansteigend­e Kurve. „Noch stärker als die Angst vor einem Cluster ist die Angst, wieder Unterricht auf Distanz zu machen“, sagt eine Direktorin in „Le Monde“. „Mit allen Ungleichhe­iten, die das auslöst.“

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Foto: AFP Rentrée mit Masken in einer Schule im bretonisch­en Rennes.

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