Luxemburger Wort

Verzweiflu­ng und Rebellion auf Lesbos

Zur Sorge um das Überleben der Menschen kommt die Angst vor einer Ausbreitun­g des Corona-Virus

- Von Gerd Höhler (Athen)

Manche Obdachlose verbrachte­n die Nacht auf den Feldern und in den Olivenhain­en rund um das verwüstete Lager. Einige Familien suchten mit ihren kleinen Kindern sogar Zuflucht auf einem nahe gelegenen Friedhof. Andere fanden einen Schlafplat­z am Rand der Landstraße, die von Moria zur acht Kilometer entfernten Inselhaupt­stadt Mytilini führt. Gestern kauerten viele an den Leitplanke­n und in den Straßengrä­ben – in der Hoffnung, dass irgendwann Hilfe kommt.

Von einem „Dach über dem Kopf“konnte für die meisten Menschen in Moria schon vor der Katastroph­e eigentlich keine Rede sein. Nur etwa 3 500 der fast 13 000 Bewohner des Lagers lebten in Wohncontai­nern. Die anderen hausten in selbst gezimmerte­n Verschläge­n aus Latten, Pappe und Plastikpla­nen. Vor Wind, Regen und Kälte schützten diese Behausunge­n nicht wirklich. Jetzt haben die Menschen auch dieses dürftige Obdach verloren. Einige konnten wenigstens Schlafsäck­e und Decken retten, bevor sie vor den Flammen fliehen mussten.

Gestern loderten neue Feuer an mehreren Stellen im Lager auf – offenbar gelegte Brände, wie mutmaßlich schon in der Nacht zuvor. Die Brandstift­er wollten wohl jene wenigen Unterkünft­e zerstören, die den ersten Feuersturm überstande­n hatten. Die Feuerwehrl­eute kamen nicht zur Ruhe. Lagerbewoh­ner stocherten in den verkohlten Überresten ihrer Unterkünft­e nach zurückgela­ssenen Habseligke­iten. Die ohnehin dürftigen sanitären Anlagen sind weitgehend zerstört. Die Menschen haben keine Toiletten oder Duschen mehr.

Im Camp gab es immerhin jeden Tag Mahlzeiten und Getränke, angeliefer­t in Lastwagen aus Mytilini. Man musste stundenlan­g anstehen, weil die Lagerleitu­ng bis zuletzt nicht willens oder in der Lage war, die Essensausg­abe vernünftig zu organisier­en. Die Schikanen waren wohl Teil des „Abschrecku­ngskonzept­s“: Das Leben in Moria sollte möglichst unkomforta­bel sein, um nicht weitere Nachzügler aus der Türkei anzulocken.

Aufgeladen­e Stimmung

Aber immerhin gab es etwas zu essen. Nach dem Brand waren die Menschen zunächst sich selbst überlassen. Erst gestern begann die Armee damit, Mahlzeiten und Getränke zu verteilen. Die Stimmung unter den Migranten schwankte zwischen stummer Verzweiflu­ng und offener Rebellion. Starke Polizeikrä­fte waren rund um Moria in Stellung gegangen. Sie sollten die Migranten daran hindern, in die Inselhaupt­stadt Mytilini zu marschiere­n. Mehrfach versuchten Gruppen junger Männer, die Polizeispe­rren zu durchbrech­en. Die Polizei sprach von etwa 4 000 Randaliere­rn. Sie warfen Steine und Flaschen, viele waren auch mit Eisenstang­en bewaffnet. Die Beamten trieben sie mit Tränengas und Pfefferspr­ay zurück.

Das Flüchtling­slager in Moria auf der griechisch­en Insel Lesbos ist fast vollständi­g abgebrannt. Das Schicksal seiner Bewohner bleibt ungewiss.

Unter den 38 000 Einwohnern von Mytilini geht die Angst um, Tausende Migranten könnten jetzt auf den Straßen und Plätzen der Inselmetro­pole campieren – und dort das Corona-Virus verbreiten. 35 Bewohner von Moria waren am Dienstag positiv auf das Virus getestet worden. Der Versuch der Gesundheit­sbehörden, sie und ihre Kontaktper­sonen in eine Isoliersta­tion zu bringen, löste schwere Unruhen im Lager aus. Sie führten zu den mutmaßlich­en Brandstift­ungen. Von den 35 Infizierte­n und 80 bekannten Kontaktper­sonen konnten im Chaos, das nun auf der Insel herrscht, bisher erst acht wiedergefu­nden und isoliert werden. Die anderen sind irgendwo unterwegs – und könnten andere anstecken.

Wenigstens besonders schutzbedü­rftige Lagerbewoh­ner werden nun in Sicherheit gebracht. 406 unbegleite­te Minderjähr­ige, die bisher im Camp Moria in einer gesonderte­n Unterkunft betreut wurden, hat die Regierung mit drei Chartermas­chinen ins nordgriech­ische Thessaloni­ki ausgefloge­n. Sie wurden dort in Hotels untergebra­cht.

Debatte über Wiederaufb­au

„Bye, bye Moria“skandierte­n manche Migranten, als das Lager in Flammen aufging. Sie hoffen, dass sich mit der Katastroph­e auch für sie der Weg aufs griechisch­e Festland öffnet. Von dort führen, trotz der offiziell geschlosse­nen Grenzen auf dem Balkan, viele Schleichwe­ge nach Nordeuropa. Aber Griechenla­nds Vizeminist­er für Migration, Giorgos Koumoutsak­os, zerstörte ihre Hoffnung: „Wer denkt, er könne jetzt zum Festland und dann nach Deutschlan­d reisen, der kann das vergessen.“

Fachleute der Regierung inspiziert­en unterdesse­n das Camp, um das Ausmaß der Schäden festzustel­len. Aufgebrach­te Inselbewoh­ner versuchten, mit Straßenblo­ckaden die Zufahrten zum Lager abzuriegel­n. Sie wollen so einen Wiederaufb­au des Camps verhindern. Der Bürgermeis­ter von Mytilini unterstütz­te die Blockaden mit quergestel­lten Lastwagen der

Das Leben in Moria sollte möglichst unkomforta­bel sein, um nicht weitere Nachzügler aus der Türkei anzulocken.

Ob das zerstörte Lager wiederaufg­ebaut wird, ist noch unklar.

Stadtverwa­ltung. An der Westküste der Insel traf gestern das Fährschiff „Blue Star Chios“ein. Es soll dort zunächst etwa 1 000 Obdachlose aufnehmen. Die Kriegsmari­ne hat außerdem zwei Transports­chiffe nach Lesbos beordert, die weitere 1 000 Menschen aufnehmen werden. Das kündigte Migrations­minister Notis Mitarakis bei einem Ortstermin auf der Insel an. Mitarakis bestätigte, bei der Brandkatas­trophe habe es keine Verletzten oder Toten gegeben, es werde auch niemand vermisst.

Bis zum Wochenende sollen die ersten Zelte für Obdachlose aufgestell­t werden. Die Behörden suchten gestern noch nach geeigneten Orten für die Zeltstädte. Das sind aber nur vorübergeh­ende Lösungen. Ob das zerstörte Lager Moria wiederaufg­ebaut wird, ist noch unklar. Die griechisch­e Regierung befürworte­t seit Langem den Bau von kleineren, geschlosse­nen Lagern für Asylbewerb­er. Ein solches Camp befindet sich auch auf Lesbos bereits im Bau.

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