„Es kann alles passieren“
Spanien verzeichnet mit Abstand die meisten Corona-Neuinfektionen in Europa – Druck auf Krankenhäuser steigt
„In Madrid wird es drei Wochen dauern, bis es ganz dick kommt“, schrieb Saúl Ares am 12. August auf Twitter, womit der Wissenschaftler vom Centro Nacional de Biotecnología zu einer kleinen Berühmtheit in Spanien wurde. Seine Vorhersage, die manche für Panikmache hielten, hat sich bestätigt. Die spanische Hauptstadtregion mit ihren knapp 6,7 Millionen Einwohnern ist nicht nur die Gegend mit den meisten Neuinfektionen im Land, sondern auch diejenige, in der die meisten Krankenhausbetten mit Covid-19-Patienten belegt sind. Vorgestern waren es 2 506, was 17 Prozent der Madrider Bettenkapazität entspricht. Und jetzt? Wird alles noch schlimmer kommen, oder ist der Höhepunkt erreicht? „Es kann alles passieren“, sagt Ares gestern.
Spanien führt seit einigen Wochen die tägliche Liste der Corona-Neuinfektionen der europäischen Seuchenschutzbehörde ECDC an: 263,2 pro 100 000 Einwohner in den letzten 14 Tagen war der Wert gestern. Zwölfeinhalbmal höher als etwa in Deutschland. In Madrid lag die entsprechende
Nicht nur in der Gaststättenund Hotelleriebranche wächst die Angst vor den wirtschaftlichen Folgeschäden des Virus. Mitarbeiter demonstrieren in Madrid mit dem Slogan „Lasst uns die Hotelindustrie retten“. Zahl vorgestern bei knapp 530. Die Lage ist ernst.
Die Spanier haben sich lange damit beruhigt, dass von den vielen Infizierten in diesem Sommer längst nicht so viele ernsthaft krank werden wie während der ersten Welle im Frühjahr. Damals war nur rund jeder Zehnte, der sich mit dem Virus angesteckt hatte, auch entdeckt worden, und das waren oft die schwereren Fälle. Heute werden allerorten Tests gemacht und deswegen auch mehr Infizierte aufgespürt. Doch die steigende Zahl der behandlungsbedürftigen Patienten zeigt, dass sich das Virus tatsächlich wieder ausbreitet. Jeden Tag ein bisschen mehr. Es ist mehr als eine statistische Illusion.
Vorbilder für den Rest Spaniens
Die Welle lässt sich stoppen. Das haben Katalonien und die Nachbarregion Aragón vorgemacht, die Mitte Juli die ersten Regionen mit sprunghaft steigenden Infektionszahlen waren und es seitdem geschafft haben, die Virusausbreitung langsam wieder einzudämmen. Und das ohne allgemeine Ausgangssperren wie im Frühjahr. Geholfen haben spürbare Restriktionen in konkreten Zentren der Epidemie und gewisse allgemeine Beschränkungen des Nachtlebens und sozialer Zusammenkünfte. Das könnte das Vorbild für den Rest Spaniens sein.
Im ganzen Land haben sich die Menschen daran gewöhnt, außerhalb der Wohnung Maske zu tragen – abgenommen wird sie nur in der Kneipe oder im Restaurant, das heißt in den meisten Fällen: an Tischen draußen auf dem Bürgersteig. Ansonsten ist auf den Straßen Madrids deutlich weniger los als in Vor-Corona-Zeiten. Vieles darf man wieder seit dem Ende des Alarmzustands am 21. Juni, aber wenige tun es: ins Kino oder Theater gehen zum Beispiel. Fremde sind potenzielle Virenträger, deswegen meidet man sie. Stattdessen steckt man sich bei Freunden oder in der Familie an, da werden die meisten sorglos.
Die starke Ausbreitung des Virus in Spanien dürfte aber mutmaßlich weniger auf persönliche Unvernunft als auf sehr schlechte Politik zurückzuführen sein. In Madrid gab es bis vor Kurzem nur 560 Tracker zur Nachverfolgung von Infektionsketten. Demnächst sollen es 1 100 sein, verspricht der regionale Gesundheitsminister. Gebraucht hätte man 1 650 – von Anfang an. Jetzt, angesichts der hohen Infektionszahlen, „ist jede Nachverfolgung sehr schwierig“, sagt Saúl Ares. Seit Beginn der Coronakrise Ende Januar hecheln die spanischen Verantwortlichen den Ereignissen hinterher. Was bleibt, ist Hoffen und Bangen.