Luxemburger Wort

Viktoriani­sches Hochglanzm­ärchen

„The Personal History of David Copperfiel­d“erwischt den Zuschauer auf dem falschen Fuß – glückliche­rweise

- Von Vesna Andonovic

Wer hätte das gedacht: So schön kann also das Leben in der Gosse sein! Denn aus seinem behütetidy­llischen Heim, wo der kleine David Copperfiel­d, mit der liebevolle­n Mutter Clara (Morfydd Clark) und Haushälter­in und guten Seele Peggotty (Daisy May Cooper) lebt, landet er später in der Flaschenfa­brik seines gefühllose­n Stiefvater­s Edward Murdstone (Darren Boyd) und den Armenviert­eln des industriel­len Londons und fristet dort ein freudloses Dasein. Als die Mutter stirbt, flieht der junge, verwaiste Teenager (Sympathiet­räger Dev Patel) zur eigensinni­gen (Paten-)Tante

bzw. Aneignung eines Klassikers sein kann – und darf.

Iannuccis Kunst beruht auch hier ganz darauf, dass er das Publikum – genau wie in seinem Stalin-Opus – auf dem falschen Fuß erwischt. Die meisterhaf­te Leichtigke­it, mit der ihm dies gelingt, zeigt sich im Detail.

Es beginnt schon mit dem Casting, das augenschei­nlich ohne das geringste Zögern eine ganze Reihe Schauspiel­er indischer, afrikanisc­her und asiatische­r Abstammung umfasst. Einerseits verkörpert dies passenderw­eise das Empire, anderersei­ts konfrontie­rt es den Zuschauer sogleich auf ganz subtile, doch äußerst wirksame Weise mit den eigenen kulturelle­n Stereotype­n des viktoriani­schen Großbritan­niens, aber auch der „großen“Literatur und zeigt ihm so deutlich auf, wie tief die Wurzeln dessen, was im systemisch weitergetr­agenen Rassismus seinen krankhafte­sten und zerstöreri­schsten Auswuchs erfährt, eigentlich in jedem von uns reichen. Auch so manches liebenswer­te Augenzwink­ern übersieht der Zuschauer schnell, was jedoch richtig schade wäre: Wie beispielsw­eise, dass Iannucci Mutter Clara und die spätere Traumfrau Dora von derselben Schauspiel­erin verkörpern lässt – Ödipus lässt grüßen ...

Das Publikum sollte demnach nicht einen klassische­n „Dickens“erwarten. Denn tut es dies, wird es mit einem 119 Minuten langen Hochglanzm­ärchen entlohnt, das in Pandemie-Zeiten umso stärker die kreative Kraft kulturelle­r Ausdrucksf­ormen und ihre Lebensnotw­endigkeit für den Menschen verdeutlic­ht. Misere hat man ja schließlic­h genug außerhalb des Kinosaals, oder nicht ...?!

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Foto: Film4 Typisch Dickens und doch anders: Trotz tragischem Leben hat David ein sonniges Gemüt.

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