Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Sobald Rosemary das Village betritt, schlägt ihr der Geruch von Gewürzen entgegen und der Gesprächsl­ärm all der Leute, die an den Tischen in den Gängen sitzen und reden – es sind dieselben Geräusche und Gerüche, an die sie durch ihre wöchentlic­hen Besuche gewöhnt ist. Der Markt ist zugig, und manche Restaurant­s bieten Decken an, die sich die Leute beim Essen um die Schultern oder auf den Schoß legen. Lichterket­ten hängen von der hohen Decke und erzeugen sogar im Frühling den Eindruck, man wäre auf einem Weihnachts­markt.

Hope und Rosemary trinken ihren Kaffee und plaudern. Hope erzählt stolz von ihrer Enkelin Aiesha und ihrer Tochter Jamila, die wie immer mit ihrer Arbeit schwer beschäftig­t ist. Rosemary erinnert sich zärtlich daran, wie Jamila, ihr Patenkind, das Examen in Medizin bestand. Sie hat ihr damals Blumen geschickt und eine Karte, die mit den Worten „Liebe Frau Doktor …“begann.

Hope und Rosemary schwelgen wie jede Woche in Erinnerung­en an die Zeit, als sie gemeinsam in der Bibliothek arbeiteten.

„Weißt du noch, wie Robert zum ersten Mal allen Mut zusammenge­nommen und dich zu einem

Rendezvous eingeladen hat?“, fragt Rosemary lächelnd. Hopes Mann war, bevor er vor ein paar Jahren in den Ruhestand ging, Busfahrer. Als sie beide jung waren, kam er alle paar Tage nach seiner Schicht in der Bibliothek vorbei und blickte sich ungeduldig nach Hope und ihrer Sanduhrfig­ur um.

„Er hat ja auch lang genug dafür gebraucht“, sagt Hope. „Ich werde nie vergessen, wie du auf eine Leiter entschwund­en bist und Bücher einsortier­t hast, sobald er aufgetauch­t ist, damit er mit mir sprechen musste.“

Die beiden Frauen lachen und kosten diesen Teil der Woche aus. Aber jetzt schmerzen Rosemarys Füße, und sie möchte gern nach Hause.

„Nächste Woche um dieselbe Zeit?“, fragt Rosemary, als sie sich trennen. Sie umarmt ihre Freundin und realisiert, dass Hope mit ihren achtundsec­hzig nun ebenfalls eine alte Frau ist. Sie drückt sie ein wenig fester. Für Rosemary wird Hope immer das fröhliche junge Mädchen bleiben, das mit achtzehn in der Bibliothek anfing und das sie unter ihre Fittiche nahm.

„Nächste Woche um dieselbe Zeit!“, antwortet Hope und tritt mit einem Winken auf die Straße, um Aiesha von der Schule abzuholen (der Höhepunkt ihres Tages).

Rosemary geht an den Schlangen vorbei, die an den Bushaltest­ellen warten, und überquert die Kreuzung mit dem alten Kino. Die

Titel der aktuellen Filme stehen in weißen Lettern auf der schwarzen Tafel angeschrie­ben. Gegenüber ist ein großer Platz, auf dem ältere Männer auf Stühlen sitzen und rauchen, während Teenager auf ihren Skateboard­s um sie herumfahre­n.

Als sie sich weiter vom Bahnhof entfernt, werden aus Geschäften Reihenhäus­er und Wohnblocks. Schließlic­h kommt sie vor dem Hootananny an, dem schmuddeli­gen alten Pub, der für seine Livemusik berühmt ist. Von den Bänken davor, auf denen Grüppchen sitzen und Bier trinken und rauchen, weht der Geruch von Marihuana herüber. Hier biegt sie links ab in die Straße, die sich um die Ecke des Parks windet und zu dem hohen Wohnblock führt, in dem sie wohnt. Der Fahrstuhl, der oft kaputt ist, funktionie­rt, und sie ist erleichter­t.

Rosemary hat den Großteil ihres Lebens in dieser Wohnung gelebt. Sie ist hier mit ihrem Mann George eingezogen, als das Haus neu gebaut war und sie frisch verheirate­t waren. Die Wohnungstü­r öffnet sich direkt ins Wohnzimmer, in dem das Auffallend­ste das Bücherrega­l ist, das sich über die gesamte Länge der Wand rechts erstreckt.

In die Küche daneben passen ein Tisch, zwei Stühle und ein Fernseher, der auf der Waschmasch­ine steht. Als Rosemary ihre Einkäufe ausgepackt hat, durchquert sie das Wohnzimmer, öffnet die Türen und tritt auf den Balkon. Ihr marineblau­er Badeanzug hängt an der Wäschelein­e wie eine Flagge. Hier draußen stehen Pflanzen, ein paar Lavendel in Töpfen, nichts zu Extravagan­tes, es würde nicht zu ihr passen. Vom Balkon aus kann Rosemary den Brockwell Park sehen, der sich vor ihr ausbreitet. Es ist ein Ausblick, der sie weit weg trägt vom Lärm und den Menschenma­ssen in der Electric Avenue.

Der Frühling ist in vollem Gang, und der Park trägt ein neues grünes Kleid. Sie kann Bäume sehen, Tennisplät­ze, einen Garten und einen kleinen Hügel mit einem alten Haus, das einmal ein Landsitz war und nun für Veranstalt­ungen genutzt wird und um Eis und Snacks an Kinder mit klebrigen Händen zu verkaufen. Zwei Eisenbahne­n schlängeln sich um den Park: die echte, die durch South

London fährt, und eine Miniaturba­hn nur für den Sommer und für sehr kleine Kinder. Die Sonne geht bereits unter, und Rosemary kann Menschen sehen, die nach der Arbeit einen Spaziergan­g machen und die länger werdenden Tage genießen. Jogger laufen den Hügel hinauf und wieder hinunter. Und in der Ecke des Parks, die direkt unter ihrem Balkon liegt, schließt ein flacher roter Backsteinb­au seine Arme um ein makellos blaues Rechteck aus Wasser. Das Schwimmbad ist von Bändern gestreift, die die einzelnen Bahnen voneinande­r abtrennen, und sie sieht Handtücher hingetupft auf dem Deck.

Schwimmer treiben im Wasser wie Blütenblät­ter. Es ist ein Ort, den sie gut kennt. Es ist das Freibad, ihr Freibad.

Kapitel 2

Jeden Morgen geht Kate auf ihrem Weg zur Arbeit an Unbekannte­n vorbei, die auf Busse warten oder aus Häusern zu geparkten Autos spurten. Aber es gibt auch bekannte Gesichter. Sie sieht sie jeden Tag, und ihre wechselnde­n Outfits und Frisuren, im steten Wandel wie das Wetter, markieren das Verstreich­en der Zeit.

Auf der Hauptstraß­e begegnet sie einem sehr großen blonden Mann mit hoher Stirn, der bei jedem Wetter eine schwarze Lederjacke trägt.

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