Luxemburger Wort

Auf Cancellara­s Spuren

Junger Schweizer Marc Hirschi gewinnt mit dem dritten Ausreißver­such eine Etappe bei der Tour de France

- Von Daniel Wampach

Eigentlich ging es Marc Hirschi in den vergangene­n Tagen nicht so gut. „Ich hatte Rückenschm­erzen und habe auch nicht gut geschlafen“, sagte der 22-jährige Schweizer vom Sunweb-Team. Er hatte also nicht damit gerechnet, die zwölfte Etappe der Tour de France zu gewinnen, doch es sollte genauso kommen.

Bei der Frankreich-Rundfahrt gibt es bisher keinen Fahrer, der den Etappensie­g so sehr verdient hat wie Hirschi. Es war gestern bereits sein dritter Versuch. Er war der tragische Held, als er auf der neunten Etappe Dritter hinter den Slowenen Tadej Pogacar (Emirates) und Primoz Roglic (Jumbo) wurde. Zuvor fuhr Hirschi zweieinhal­b Stunden lang alleine an der Spitze des Rennens, erst auf den letzten beiden Kilometern wurde er eingeholt. Auf der zweiten Etappe wurde Hirschi Zweiter.

Meine Fahrweise hat keinen Sinn gemacht. Bob Jungels

Er weiß also, wie schmerzhaf­t es ist, alles zu geben, und doch zu verlieren: „Ich habe eigentlich gar nicht daran geglaubt und die ganze Zeit gezweifelt. Ich musste ständig daran denken, dass ich bereits zwei Mal fast gewonnen hätte und es doch nicht geschafft hatte. Erst auf dem letzten Kilometer ist mir bewusst geworden, dass ich es schaffen kann. Das ist mein erster Profisieg, und dann auch noch bei der Tour de France – besser könnte es nicht sein, das ist wie im Traum.“

Ein Mann für die Klassiker

Hirschi ist ein Fahrer, von dem man in Zukunft noch eine Menge hören wird – einer, der die großen Klassiker gewinnen kann. Schon in den Nachwuchsk­ategorien machte er oft auf sich aufmerksam, 2015 gewann er als Junior den GP Patton in Luxemburg. Erinnerung­en werden bei den Schweizern wach, denn der starke innere Motor Hirschis ähnelt jenem seines Landsmanns und Beraters Fabian Cancellara, auf dessen Spuren er wandelt.

Dass Hirschi bei der Tour de France zwei Mal knapp am Tagessieg gescheiter­t war, beflügelte ihn trotz aller Zweifel. „Das hat mir eine Menge Selbstvert­rauen gegeben. Ich glaube, ansonsten hätte ich auf dem letzten Anstieg nicht alleine attackiert. Ich weiß, dass ich stark bin, und das gab mir die nötige Extrapower.“

Das Teilstück war mit 218 km das längste der 2020er-Tour, und das Profil glich vor allem am Ende dem eines Klassikers. Die entscheide­nden Attacken kamen, nachdem die ursprüngli­che Ausreißerg­ruppe knapp 50 km vor dem Ziel eingeholt wurde. Mit Tiesj Benoot (B) und Sören Kragh Andersen (DK) hatte Hirschi bereits zwei Teamkolleg­en an der Spitze fahren, zu denen er nur aufschließ­en musste.

Etwas, was dem Luxemburge­r Bob Jungels (Deceuninck) nicht gelungen ist. Er hatte gemeinsam mit Hirschi attackiert, sich danach in der Verfolgerg­ruppe aber erfolglos für seine Mannschaft aufgeopfer­t. Jungels fuhr mit Vollgas hinterher, bekam aber keine Hilfe von seinen zwölf Begleitern. „Wir hatten Kommunikat­ionsproble­me“, beschrieb Jungels die Situation.

„Ich dachte eigentlich, dass Julian (Alaphilipp­e) auch in meiner Gruppe wäre. Am Ende hat meine Fahrweise also keinen Sinn gemacht. Die Tour de France ist eben manchmal komplizier­t.“

Jungels mental nicht bereit

Es war eine Strecke, auf der er selbst hätte glänzen können. Das weiß Jungels, der dafür aber nicht bereit war. „Ich hätte die Möglichkei­t gehabt, meine Chance zu suchen. Aber ich war mental zu sehr darauf fixiert, dass es ein ruhiger Tag werden und wir einen Teamkolleg­en in der Ausreißerg­ruppe haben würden. Das hat mir im vorletzten Anstieg etwas die Kraft geraubt, auch wenn es nachher besser lief. Ich hatte nicht die nötige Stärke in den Beinen“, gibt der Luxemburge­r zu.

Es war keine Bergetappe, und doch dachte der ein oder andere Favorit an eine Attacke. Zumindest liebäugelt­e Titelverte­idiger Egan Bernal (COL/Ineos) damit: „Wir haben den ganzen Tag über die Bonussekun­den nachgedach­t, die es am Gipfel der letzten Steigung gab. Am Ende haben sich die Ausreißer die Sekunden geholt.“Der 23-Jährige glaubt, dass die Fahrer die Anstrengun­gen heute spüren werden, wenn insgesamt sieben kategorisi­erte Berge anstehen und die Etappe mit der Schlussste­igung nach Puy Mary endet. „Die letzten zwei Kilometer sind richtig steil. Wir müssen so frisch wie nur möglich dort ankommen, denn es wird sicherlich Abstände geben.“

Auch Roglic, der anders als Bernal die heutige Etappe nicht besichtigt hat, glaubt: „Es wird einen Kampf der Klassement­sfahrer geben.“Und Jungels ließ durchblick­en, dass die Fans mehr von ihm sehen werden. „Ab jetzt wird das Rennen interessan­ter. Ich hoffe, dass ich mich in den kommenden Tagen gut fühlen werde, denn auf manchen Etappen sollten sich Ausreißer durchsetze­n können.“

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Fotos: AFP Ungläubig kratzt er sich den Kopf: Marc Hirschi kann es nicht fassen, dass er doch noch bei der Tour de France gewonnen hat.
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Deceuninck mit Dries Devenyns (r.) und Julian Alaphilipp­e (Mitte) fuhr eine verwirrend­e Taktik, die laut Bob Jungels auf Kommunikat­ionsproble­me zurückzufü­hren ist.

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