Auf Cancellaras Spuren
Junger Schweizer Marc Hirschi gewinnt mit dem dritten Ausreißversuch eine Etappe bei der Tour de France
Eigentlich ging es Marc Hirschi in den vergangenen Tagen nicht so gut. „Ich hatte Rückenschmerzen und habe auch nicht gut geschlafen“, sagte der 22-jährige Schweizer vom Sunweb-Team. Er hatte also nicht damit gerechnet, die zwölfte Etappe der Tour de France zu gewinnen, doch es sollte genauso kommen.
Bei der Frankreich-Rundfahrt gibt es bisher keinen Fahrer, der den Etappensieg so sehr verdient hat wie Hirschi. Es war gestern bereits sein dritter Versuch. Er war der tragische Held, als er auf der neunten Etappe Dritter hinter den Slowenen Tadej Pogacar (Emirates) und Primoz Roglic (Jumbo) wurde. Zuvor fuhr Hirschi zweieinhalb Stunden lang alleine an der Spitze des Rennens, erst auf den letzten beiden Kilometern wurde er eingeholt. Auf der zweiten Etappe wurde Hirschi Zweiter.
Meine Fahrweise hat keinen Sinn gemacht. Bob Jungels
Er weiß also, wie schmerzhaft es ist, alles zu geben, und doch zu verlieren: „Ich habe eigentlich gar nicht daran geglaubt und die ganze Zeit gezweifelt. Ich musste ständig daran denken, dass ich bereits zwei Mal fast gewonnen hätte und es doch nicht geschafft hatte. Erst auf dem letzten Kilometer ist mir bewusst geworden, dass ich es schaffen kann. Das ist mein erster Profisieg, und dann auch noch bei der Tour de France – besser könnte es nicht sein, das ist wie im Traum.“
Ein Mann für die Klassiker
Hirschi ist ein Fahrer, von dem man in Zukunft noch eine Menge hören wird – einer, der die großen Klassiker gewinnen kann. Schon in den Nachwuchskategorien machte er oft auf sich aufmerksam, 2015 gewann er als Junior den GP Patton in Luxemburg. Erinnerungen werden bei den Schweizern wach, denn der starke innere Motor Hirschis ähnelt jenem seines Landsmanns und Beraters Fabian Cancellara, auf dessen Spuren er wandelt.
Dass Hirschi bei der Tour de France zwei Mal knapp am Tagessieg gescheitert war, beflügelte ihn trotz aller Zweifel. „Das hat mir eine Menge Selbstvertrauen gegeben. Ich glaube, ansonsten hätte ich auf dem letzten Anstieg nicht alleine attackiert. Ich weiß, dass ich stark bin, und das gab mir die nötige Extrapower.“
Das Teilstück war mit 218 km das längste der 2020er-Tour, und das Profil glich vor allem am Ende dem eines Klassikers. Die entscheidenden Attacken kamen, nachdem die ursprüngliche Ausreißergruppe knapp 50 km vor dem Ziel eingeholt wurde. Mit Tiesj Benoot (B) und Sören Kragh Andersen (DK) hatte Hirschi bereits zwei Teamkollegen an der Spitze fahren, zu denen er nur aufschließen musste.
Etwas, was dem Luxemburger Bob Jungels (Deceuninck) nicht gelungen ist. Er hatte gemeinsam mit Hirschi attackiert, sich danach in der Verfolgergruppe aber erfolglos für seine Mannschaft aufgeopfert. Jungels fuhr mit Vollgas hinterher, bekam aber keine Hilfe von seinen zwölf Begleitern. „Wir hatten Kommunikationsprobleme“, beschrieb Jungels die Situation.
„Ich dachte eigentlich, dass Julian (Alaphilippe) auch in meiner Gruppe wäre. Am Ende hat meine Fahrweise also keinen Sinn gemacht. Die Tour de France ist eben manchmal kompliziert.“
Jungels mental nicht bereit
Es war eine Strecke, auf der er selbst hätte glänzen können. Das weiß Jungels, der dafür aber nicht bereit war. „Ich hätte die Möglichkeit gehabt, meine Chance zu suchen. Aber ich war mental zu sehr darauf fixiert, dass es ein ruhiger Tag werden und wir einen Teamkollegen in der Ausreißergruppe haben würden. Das hat mir im vorletzten Anstieg etwas die Kraft geraubt, auch wenn es nachher besser lief. Ich hatte nicht die nötige Stärke in den Beinen“, gibt der Luxemburger zu.
Es war keine Bergetappe, und doch dachte der ein oder andere Favorit an eine Attacke. Zumindest liebäugelte Titelverteidiger Egan Bernal (COL/Ineos) damit: „Wir haben den ganzen Tag über die Bonussekunden nachgedacht, die es am Gipfel der letzten Steigung gab. Am Ende haben sich die Ausreißer die Sekunden geholt.“Der 23-Jährige glaubt, dass die Fahrer die Anstrengungen heute spüren werden, wenn insgesamt sieben kategorisierte Berge anstehen und die Etappe mit der Schlusssteigung nach Puy Mary endet. „Die letzten zwei Kilometer sind richtig steil. Wir müssen so frisch wie nur möglich dort ankommen, denn es wird sicherlich Abstände geben.“
Auch Roglic, der anders als Bernal die heutige Etappe nicht besichtigt hat, glaubt: „Es wird einen Kampf der Klassementsfahrer geben.“Und Jungels ließ durchblicken, dass die Fans mehr von ihm sehen werden. „Ab jetzt wird das Rennen interessanter. Ich hoffe, dass ich mich in den kommenden Tagen gut fühlen werde, denn auf manchen Etappen sollten sich Ausreißer durchsetzen können.“