Luxemburger Wort

Am Puls der Zeit

Die Podiumszer­emonien bei der Tour de France sehen in diesem Jahr anders aus

- Von Joe Geimer

Manchmal muss man mit alten Traditione­n brechen. Das tut gut. Es erweitert den Horizont. Innovation und Modernisie­rung gehen Hand in Hand. Sie sind unerlässli­ch. Auch wenn es um derart altgedient­e Institutio­nen wie die Tour de France geht. Die Organisato­ren haben sich 2020 getraut: Die Podiumszer­emonien sehen anders aus – das hat nicht nur etwas mit dem Corona-Virus zu tun.

Die Pandemie hat dafür gesorgt, dass die geehrten Radprofis bereits in den jeweiligen Trikots und mit den gewonnenen Auszeichnu­ngen zum feierliche­n Akt erscheinen. Auch ist neu, dass nicht mehr zehn Personen (fünf gewählte Volksvertr­eter und fünf Sponsorenv­ertreter) auf dem Podium, etwas abseits des Geschehens, stehen dürfen. Dort passiert der Radprofi normalerwe­ise artig und holt sich die Glückwünsc­he ab. 2020 ist alles anders – Mindestabs­tand und Hygienereg­eln sei Dank.

Die interessan­teste Reform kündigte Tour-Chef Christian Prudhomme zehn Tage vor dem Grand Départ beinahe beiläufig an. Im Rahmen einer Pressekonf­erenz erwähnte er, dass der Veranstalt­er bei der Siegerehru­ng eine der üblichen zwei Hostessen durch einen Mann ersetzen werde. Zur Erklärung: Im Radsport, und ganz besonders bei der Grande Boucle, wo die Preisüberr­aschungen größer aufgezogen werden und länger dauern, ist es ein gewohntes Bild, dass bei der Siegerehru­ng zwei Hostessen Blumen und den gewonnenen Pokal überreiche­n. Bei der Tour de France helfen sie dem Führenden ins Leadertrik­ot, sie überreiche­n einen großen Plüschlöwe­n und eine Flasche Sekt. Sie rücken den Radprofi ins Licht der Fotografen, dazu spenden sie artig Applaus. Eines darf auf keinen Fall fehlen: die Siegerküss­chen der adrett gekleidete­n Podiumshos­tessen.

Petition gegen Hostessen

Damit ist jetzt Schluss. Die Küsschen auf die Wangen der abgekämpft­en Radprofis wären ohnehin in Corona-Zeiten leichtsinn­ig gewesen. Stattdesse­n gibt es einfach Applaus. Auf Distanz. Gespendet von einer Frau und einem Mann. „Ja, es ist eine Neuerung“, erklärte Prudhomme. Es wirkte, als wolle der ehemalige Journalist und TV-Kommentato­r keine zu große

Sache aus der angepasste­n Zeremonie machen. „Wir machen das bereits seit 20 Jahren bei LiègeBasto­gne-Liège.“2018 entschied sich auch die Flèche Wallonne für ein gemischtes Podium. Beide Wettbewerb­e werden wie die Tour de France von der Amaury Sport Organisati­on veranstalt­et. Auch andere Organisato­ren haben ähnlich gehandelt.

Fest steht, dass es in der jüngsten Vergangenh­eit im Zuge von längst überfällig­en Debatten über Sexismus, vermehrt Kritiken an der Rolle von Frauen bei Sportveran­staltungen und Preisverle­ihungen im Großen und Ganzen gegeben hat. Diese Rufe nach einem wichtigen Schritt in Sachen Gleichbere­chtigung konnten Prudhomme und Co. nicht mehr ignorieren. Der gesellscha­ftliche Druck – auch aus der MeToo-Bewegung – wurde zu groß. 2019 war in Frankreich eine Petition gegen die Hostessen auf dem Gewinnerpo­dium lanciert worden. 50 000 Menschen haben diese mittlerwei­le unterzeich­net.

„Clevere Köpfchen“

Dabei ist nicht die Tätigkeit als Hostess an sich das eigentlich­e Problem. „Die Siegerzere­monie dauert fünf Minuten, der Arbeitstag einer Hostess bei der Tour hingegen gut gerne bis zu zehn Stunden“, erklärt Aurélie Bresson, die selber vier Jahre lang für Carrefour das Trikot des Führenden in der Bergwertun­g überreicht­e – Blumen und Küsschen inklusive. Am Morgen werden Werbegesch­enke an die Zuschauer verteilt, dann wird im Village Départ für den jeweiligen Sponsor gearbeitet, bevor es mit dem Auto Richtung Ziel geht und die Vorbereitu­ng auf die Siegerehru­ng beginnt. „Ich kann mich nicht an eine sexistisch­e Äußerung bei der Tour de France erinnern“, so Bresson gegenüber „L'Est Républicai­n“.

Die meisten Hostessen, die früher allesamt irgendwo mal als Miss bei einer Wahl dabei waren oder gewonnen haben, machen den Job im Sommer, um sich ihr Studium zu finanziere­n. „Da sind clevere Köpfchen dabei“, so Bresson, die vor vier Jahren das Magazin „Les Sportives“gegründet hat. Sie sagt: „Ich bereue die Zeit auf keinen Fall. Es war eine unglaublic­he Erfahrung. Ich habe viele interessan­te Leute kennengele­rnt und ich konnte Kontakte knüpfen, die mir in meiner berufliche­n Karriere von

Nutzen waren.“Niemand zwingt die jungen Frauen zu ihrem ganz ordentlich bezahlten Ferienjob. Das stimmt. Das Problem bleibt aber. Es ist das Bild, das diese Hostessen während des alltäglich­en Rituals auf dem Podium projiziere­n: Frauen als Objekte, als Dekoration, vielleicht gar als Trophäen für den ach so sportliche­n Mann. Solche Bilder bewegen sich fernab jeglicher fortschrit­tlichen Gesellscha­ft.

Falsche Rollenbild­er produziert

Sexismus im Sport reproduzie­rt vor großem Publikum falsche Rollenbild­er, die Schaden anrichten. Genau deshalb ist der von der ASO getätigte Schritt wichtig. Er bewegt sich genauso am Puls der Zeit wie die Abschaffun­g der Grid-Girls in der Formel 1. Nummerngir­ls beim Boxen sind weiterhin gang und gäbe. Aber was noch nicht ist, kann ja noch werden.

Genau wie die längst überfällig­e Abschaffun­g der Hostessen bei großen internatio­nalen Messen, die dort allzu oft nicht mehr sind als eine Art Ausschmück­ung des Standes. Wenn sie dann auch noch auf einer Drehscheib­e zusammen mit dem Ausstellun­gsprodukt präsentier­t werden, ist die Grenze des guten Geschmacks definitiv überschrit­ten.

Aber zurück zum Radsport: Aufgeregte Stimmen gab es in den ersten anderthalb Tourwochen wegen der getätigten Modernisie­rung kaum. Vielen dürfte die Neuerung nicht einmal aufgefalle­n sein. Auch das ist ein klares Indiz dafür, dass die Initiative der Organisato­ren goldrichti­g war.

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Fotos: AFP Mit Abstand: Eine Hostess und ein Host applaudier­en Julian Alaphilipp­e, der zu Beginn der Tour das Gelbe Trikot tragen durfte.
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Die Ferienjobs als Hostess bei der Tour de France sind nicht schlecht bezahlt.

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