Luxemburger Wort

Zwischen Tag und Traum

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Vor gut einer Woche zog der Herbst bei uns ein. Nur ein Dichter kann die heraufzieh­enden Tage so wunderbar beschreibe­n. „Eines Morgens riechst du den Herbst“, notiert Kurt Tucholsky in seinem Tagebuch. „Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich nichts geändert – und doch alles.“Der Satiriker Tucholsky wird zum Melancholi­ker, zum Naturverst­eher: „Wenn der Sommer vorbei und die Ernte in die Scheuern gebracht ist, wenn sich die Natur niederlegt wie ein altes Pferd, das sich im Stall hinstreckt, so müde ist es – wenn der späte Nachsommer verklingt und der frühe Herbst noch nicht angefangen hat – dann ist das die fünfte Jahreszeit, die Spanne zwischen Tag und Traum.“

Der Kollege Rainer-Maria Rilke zieht Bilanz in einem seiner schönsten Gedichte: „Herr: es ist Zeit. / Der Sommer war sehr groß. / Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhre­n, und auf den Fluren lass die Winde los.“

Der Herbst rüttelt auch an den Bäumen, die ersten Blätter fallen und machen die Wälder durchsicht­ig. Noch bevor er so richtig Einzug hält, schickt er seine Boten aus. Spinnweben schweben durch die Luft, das Licht ist klar und rein, die Natur hält den Atem an. Das Räderwerk steht still. Das Wachsen, Reifen, Laichen ist vorüber. Bald feiern wir den Erntedank. Ein guter, alter, schöner Brauch. In den Weinbergen lässt sich erleben, was Tucholsky mit der „fünften Jahreszeit“meint: Es ist die fröhliche Erkenntnis, dass alles zu Ende geht.

Der Herbst hat etwas Mildes, bewegt sich zwischen der Hitze des Sommers und der Kälte des Winters. Wer an einem frühen Morgen entlang der Mosel spazieren geht, dem offenbaren sich mystische Augenblick­e: Nebel schleicht umher, aus grauem Dunst tauchen Bäume, Häuser, eine Brücke über dem Fluss empor. Wie auf einem Gemälde, von einem Meister hingezaube­rt. Auch der Wald wechselt sein Kleid. Schon hat es begonnen zu gilben, auf Wiesen und Wegen raschelt das Laub. Der Herbst hat etwas Nachdenkli­ches, etwas Wehmütiges. Doch er wird uns auch den neuen Wein bescheren. Gönnen wir uns also einen kleinen Ausflug in Wald und Feld oder an das Moselufer. Besonders jetzt, wo das Leben so bedrohlich geworden ist.

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Foto: Chris Karaba
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von Rainer Holbe

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