Die digitale Droge
„The Social Dilemma“zeigt, wie Facebook und Co. den Menschen zur Laborratte machen und ungehindert manipulieren
Wissen Sie eigentlich, wo sich (Ihre) Kinder so alles auf den sozialen Netzwerken herumtummeln? Welchen Einflüssen sie dort ausgesetzt sind? Was dies für ihre emotionale Entwicklung bzw. ihr Gefühls- und das Sozialleben bedeutet? Derartige Fragen beschäftigen
Computer als Hardware, soziale Netzwerke als Software – zahlreiche Annehmlichkeiten, die das Leben vereinfachen, bergen sie genauso viele Schattenseiten. Und einige davon sind nicht minder als eine direkte und akute Bedrohung für unser Gesellschaftsmodell der Demokratie.
Aber keine Angst: „The Social Dilemma“ist keiner dieser obsoleten Anti-Fortschritt-Unkenrufe, die den Zuschauer mit seinem kulturpessimistischen „Früher war alles besser“-Mantra zu bekehren und der Verteufelung von Algorithmen zur Abkehr von moderner Technologie und sozialen Netzwerken zu bewegen versucht.
Hitech-Schnuller zur seelischen Beruhigung
Im Gegenteil, der New Yorker Dokumentarfilmemacher Jeff Orlowski, Jahrgang 1984, der sich zuvor mit einem Emmy Award und beim Sundance-Filmfestival ausgezeichneten „Chasing Coral“und „Chasing Ice“Umweltthemen gewidmet hat, präsentiert nicht nur Kritik, er versucht auch Lösungsansätzen zu bieten. Hierfür lässt er Menschen zu Wort kommen, die mitgeholfen haben u. a. Google, Facebook, Twitter oder Pinterest zu dem zu machen, was sie heute sind – nämlich wirtschaftliche Giganten und (über-)mächtige Meinungsmacher –, um mit ihren Bedenken die überfällige öffentliche Debatte anzustoßen.
Die Macher von gestern sind die Mahner von heute – und kommen visuell so hip und lässig daher, als säßen sie im Promovideo des neuesten Silikon-Valley-Start-ups. Nur wird hier erklärt, wie Algorithmen
darauf abzielen, die Aufmerksamkeit und somit Nutzdauer des Users zu steigern, mit dem alleinigen Ziel ihn selbst als „Ware“an Werbekunden verkaufen und Profit generieren zu können. Der Mensch wird zur Laborratte, die willentlich mithilft, den Algorithmus zu optimieren, und macht sich selbst zur leichten Beute für Manipulation. Das alles mit mathematisch präzisem und bedenkenlosem Kalkül, das beispielsweise einem Nutzer, der Interesse an Verschwörungsmythen bekundet, immer weitere auftischt.
Der Konsum bestimmt das Angebot und schafft so jedem Nutzer seine eigene, abgeschottete Welt und zeitgleich faktische Wahrheit als kleinsten gemeinsamen Gesellschaftsnenner abschafft.
Die gesellschaftlichen und politischen Folgen zeigen sich bereits im Aufflammen von Nationalismen oder steigender Radikalisierung: Das Ausmaß der individuellen Auswirkungen ist derweil noch unabsehbar. Doch haben Angststörungen, Depressionen bis hin zu Suizid bei Kindern und Jugendlichen in den USA parallel zur Entwicklung der Sozialen Netzwerke zugenommen.
Dass der Zuschauer beim „The Social Dilemma“ständig zwischen Schrecken und Entsetzen schwankt, ihn abwechselnd Wut und Ohnmacht überkommen, sollte man durchaus positiv werten.
Denn letztlich zeigt sich da der Drang, sich persönlich in die Thematik der sozialen Netzwerke einzubringen. Ob man sie nun als bereits ferne Utopie oder gelebte Dystopie versteht, wenn die Doku kritisch macht und den Handlungsbedarf in Sachen (Eigen-)
Konsum und politische Verantwortung weckt, hat sie ihre wichtigste Mission bereits erfüllt.
Man verzeiht Orlowski dann auch, dass er selbst auf Illusion zurückgreift, um Wahrheit zu vermitteln. Der fiktionale Teil der Bilderbuchfamilie und die AI-Kontrollzentrale ist zwar mit dem Wunsch, Identifikationsfläche zu schaffen verständlich, er macht die Problematik letztlich jedoch nicht erfahrbarer bzw. könnte gar das Gegenteil bewirken.
Trotz formaler Schwächen, ist „The Social Dilemma“ein wichtiger Ausgangspunkt, um die direkte Kommunikation im eigenen Umfeld wieder auszuprobieren – sie ist nämlich keine Frage des Alters.
Die Dokumentation „The Social Dilemma“dauert 94 Minuten und ist auf Netflix abrufbar.