Der Verkehrsgewendete
Madrids konservativer Bürgermeister Martínez-Almeida führt die Politik seiner linken Vorgängerin fort
Sein erster Ausflug aus dem Rathaus führte den frischgewählten Bürgermeister in die Calle de Galileo im vornehmen Stadtbezirk Chamberí. Dort hatte seine Vorgängerin ein Stück Straße mit wenig Aufwand verkehrsberuhigt, 29 Autostellplätze waren Sitzbänken und Kübelpflanzen gewichen. Skandal!, fanden viele Anwohner, die lieber ihr Auto vor der Haustür parken als sich dort auf eine Bank zu setzen. Es wurde aber alles wieder gut.
Ende Mai 2019 gewann der Konservative José Luis Martínez-Almeida die Madrider Kommunalwahlen, er ließ Bänke und Pflanzen, die seine linke Vorgängerin Manuela Carmena in Chamberí hinterlassen hatte, so schnell wie möglich beseitigen, man durfte wieder parken, wo Leute gesessen hatten, und der neue Bürgermeister sagte stolz: „Wir halten unsere Versprechen.“
Autofahren als Menschenrecht
Manuela Carmena war eine gute Bürgermeisterin. Die zum Ende ihrer Amtszeit 75-Jährige, eine ehemalige Richterin, die erst spät in die Politik gegangen war, wurde von vielen Madridern geliebt und verehrt. Nur wiedergewählt wurde sie nicht. Wahrscheinlich lag das an ihrer Verkehrspolitik. Sie hatte ein paar Radwege anlegen lassen und die Innenstadt zur Niedrigemissionszone erklärt: Außer zum Parken in einer der Tiefgaragen darf man das Stadtzentrum seit Ende 2018 grundsätzlich nicht mehr mit dem Auto befahren.
Für alle augenfällig wurde Carmenas Projekt, das sie „Madrid Central“nannte, durch den Umbau der Gran Vía, dem vor 100 Jahren nach Pariser Vorbild durch die
Altstadt geschlagenen Boulevard: Sie ließ dessen Bürgersteige verbreitern und die Fahrspuren von sechs auf vier verringern. Eine kleine Revolution, die Carmena das Amt kostete. Sehr viele Madrider halten Autofahren für ein Menschenrecht, weswegen sie lieber Almeida wählten.
Der vergleichsweise junge, damals 44-jährige konservative Kandidat Martínez-Almeida hatte schon als Oppositionschef Carmenas Politik für „gescheitert“erklärt und in seinem Wahlprogramm versprochen: „Mit Almeida wird Madrid Central am 26. Mai“– dem Wahltag – „zu Ende sein.“Die Madrider glaubten es ihm und wählten ihn, und um seinen guten Willen zu demonstrieren, ließ der neue Bürgermeister die 29 Stellplätze in der Calle Galileo wiedererstehen und im Außenbezirk Hortaleza einen Radweg eliminieren. „Madrid Central“aber, das Herzstück der Verkehrspolitik seiner Vorgängerin, ließ er unangetastet. Nur seinen Namen änderte er in „Madrid 360“, was sich bei den Madridern aber noch nicht herumgesprochen hat.
Almeida war wie besessen von dem Gedanken, dass Carmena alles falsch gemacht hätte. Als er zur Sitzung des städtischen Komitees für Luftqualität im Oktober vergangenen Jahres lud, ließ er verkünden, dass Madrid wieder einmal, wie schon alle Jahre zuvor, die EU-Vorgaben zur Luftreinheit nicht eingehalten habe. Womit er bestätigen wollte, was er schon immer gesagt hatte: dass seine Vorgängerin versagt habe. Was er nicht erwähnte: dass Madrid im ersten Jahr nach Einführung von Madrid Central so saubere Luft hatte wie nie in den Vorjahren. Noch nicht sauber genug, das ist wahr, aber deutlich weniger stickoxidbelastet als zuvor. Madrid Central war ein voller Erfolg.
Almeida hat das mittlerweile eingesehen, wenn auch nie eingestanden. Er würde immer noch gern an Carmenas Projekt herumdoktern – schließlich hat er mit diesem Versprechen die Wahl gewonnen! –, aber er findet keinen richtigen Ansatz. Man könnte doch jedenfalls Autos, in denen mehr Personen als nur der Fahrer säßen, frei in der Innenstadt herumfahren lassen, schlug er vor. Aber dann verschwand der Vorschlag wieder aus seinem Programm.
Konservative Revolution
Stattdessen macht Almeida jetzt beinahe grüne Verkehrspolitik – vielleicht mitgerissen von seinen eigenen Worten anlässlich des Weltklimagipfels, der im Dezember vergangenen Jahres nach der Absage aus Chile eher zufällig in Madrid stattfand. Im Kampf gegen den Klimawandel müssten es die Städte sein, die „Initiativen anstoßen, führen und ergreifen“, sagte er zum Gipfelauftakt. Und ergriff selbst ein paar Initiativen. Drei Elektrobuslinien fahren jetzt gratis durch Madrid. Die Puerta del Sol, das Herz der spanischen Hauptstadt, ist seit Ende August endlich ganz den Fußgängern vorbehalten. Und seit diesem Sommer gibt es plötzlich neue, gelb auf die Fahrbahn gemalte Radwege. Eine konservative Revolution.
Wahrscheinlich sind gerade gute Zeiten fürs verkehrspolitische Neubesinnen. Die Corona-Krise hat die Bewegungsgewohnheiten der Madrider radikal verändert: Statt täglich 9,3 Millionen Wege wie Anfang des Jahres unternahmen sie in der ersten Septemberwoche nur noch 5,8 Millionen. Das sind mehr als ein Drittel weniger, obwohl in den ersten Septembertagen in Madrid keinerlei Ausgangsbeschränkungen galten. Die Leute haben ihre Gewohnheiten geändert, sie arbeiten zuhause oder sind auf Kurzarbeit oder haben ihre Stelle verloren.