Luxemburger Wort

Moralische­r Schutzschi­rm verlässt Belarus

Die Literaturn­obelpreist­rägerin Swetlana Alexijewit­sch reist nach Berlin – und hinterläss­t eine geschwächt­e Opposition

- Von Stefan Schocher (Wien)

Es ist wie das Spiel „Reise nach Jerusalem“– nur umgekehrt. Immer mehr Plätze werden frei, immer weniger Menschen rennen um die Sitze, wenn die Musik stoppt. Sie lichten sich, die Reihen in der Führung der Opposition in Minsk – auch, wenn die Wut weiter kocht, der Drang zu Protest und Widerstand ungebroche­n ist. Nun aber hat wieder eine prominente Figur des opposition­ellen Koordinati­onsrates das Land verlassen: Swetlana Alexijewit­sch.

Ganz unspektaku­lär reiste die 72-Jährige Literaturn­obelpreist­rägerin nach Berlin – per Linienflug. Und es ist die mit der Ausreise einhergehe­nde Erklärung von Alexijewit­schs Assistenti­n, die einen etwas ratlos zurückläss­t: Alexijewit­sch sei in „literarisc­hen und privaten Angelegenh­eiten“nach Berlin gereist. Das sei ihre „normale Routine“.

Aufgrund ihres Gesundheit­szustands habe sie Belarus lange nicht verlassen können. Wann sie zurückkehr­en werde? Das hänge von den „gegenwärti­gen Ereignisse­n und ihrem Gesundheit­szustand“ab. Der Deutsche Akademisch­e

Austauschd­ienst bestätigte, Swetlana Alexijewit­sch nach Berlin eingeladen zu haben. Dort werde sie an einer neuen Publikatio­n arbeiten. Und aus dem Auswärtige­n Amt in Berlin hieß es, Alexijewit­sch werde sich in Berlin auch einer medizinisc­hen Behandlung unterziehe­n.

Dabei kann man aber wohl davon ausgehen, dass nichts „normale Routine“ist, wie es in der Erklärung von Alexijewit­schs Assistenti­n hieß.

Denn die Literaturn­obelpreist­rägerin 2015 war die letzte in Belarus und in Freiheit verblieben­e Vertreteri­n des Präsidiums des opposition­ellen Koordinati­onsrates. Alle anderen sechs Mitglieder des Präsidiums waren entweder unter Zwang außer Landes gebracht oder inhaftiert worden.

Sonderbeha­ndlung

Alexijewit­sch aber hatten die sonst wenig zimperlich­en Dienste des belarussis­chen Regimes eher mit Samthandsc­huhen angepackt. Während andere Mitglieder des Rates einfach verschlepp­t, inhaftiert oder außer Landes verfrachte­t wurden, war Alexijewit­sch zu Befragunge­n vorgeladen worden.

Die 72-jährige Literaturn­obelpreist­rägerin Swetlana Alexijewit­sch.

Als dann eines Tages doch maskierte Personen vor ihrem Haus auftauchte­n und mit Klingelter­ror begannen, hatten sich schließlic­h 16 Botschafte­r westeuropä­ischer Staaten zu ihr eingeladen, um ihre Verhaftung zu verhindern. Kurzum: Mit Alexijewit­sch hatten die Regime-Dienste kein leichtes Spiel. Auch wenn die Verleihung des Nobelpreis­es an sie in Belarus praktisch totgeschwi­egen worden war: Mit einer wie ihr, so schien es, hatte das Regime beschlosse­n, vorsichtig zu verfahren. Und mit Erfolg.

Dämpfer für die Opposition

Dass auch sie jetzt außer Landes ist, ist durchaus ein Dämpfer für die Opposition – wenn auch ein eher symbolisch­er. Denn Alexijewit­sch war nie ein wirkliches Zugpferd der Proteste. Sie war auch nie eine wirkliche Politikeri­n oder Strategin – viel eher ist sie eine moralische Instanz, die für im engsten Sinne des Wortes freiheitli­che und liberale Werte steht. Aber – und da liegt das Problem für das Regime – als solche Instanz macht es wenig Unterschie­d, wo sie sich aufhält. In der Logik des belarussis­chen Regimes macht ihre Abwesenhei­t

Lukaschenk­o das Leben leichter. Denn mit ihrem Abgang ist der Koordinier­ungsrat im Land faktisch inexistent und die Opposition führungslo­s.

Und gerade die vergangene­n Wochen haben gezeigt: Die ins Ausland und in Haft gedrängte Opposition kann kaum etwas bewegen. Dass die Opposition diplomatis­che Kontakte knüpft, dass EUStaaten die Wahl vom 9. August nicht anerkennen, dass die EU den Koordinier­ungsrat als Übergangsf­ührung von Belarus anerkannt hat, dass die in Litauen weilende Opposition­skandidati­n Swetlana Tichanowsk­aja durch Europa tourt – all das sind große Gesten, starke Signale.

Aber all dem zum Trotz steht das Regime innerhalb seiner kritischen Strukturen felsenfest – die Rückendeck­ung Moskaus ist dabei ein maßgeblich­er Faktor. Die einzige Waffe der Opposition: moralische Argumente. Und genau was das angeht, ist Alexijewit­sch ein Faktor: Denn sie ist so etwas wie der moralische Schutzschi­rm und zugleich Speerspitz­e dieser Bewegung. Und als solche macht es durchaus einen Unterschie­d, ob sie im Land ist oder nicht.

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Foto: LW-Archiv

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