Moralischer Schutzschirm verlässt Belarus
Die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch reist nach Berlin – und hinterlässt eine geschwächte Opposition
Es ist wie das Spiel „Reise nach Jerusalem“– nur umgekehrt. Immer mehr Plätze werden frei, immer weniger Menschen rennen um die Sitze, wenn die Musik stoppt. Sie lichten sich, die Reihen in der Führung der Opposition in Minsk – auch, wenn die Wut weiter kocht, der Drang zu Protest und Widerstand ungebrochen ist. Nun aber hat wieder eine prominente Figur des oppositionellen Koordinationsrates das Land verlassen: Swetlana Alexijewitsch.
Ganz unspektakulär reiste die 72-Jährige Literaturnobelpreisträgerin nach Berlin – per Linienflug. Und es ist die mit der Ausreise einhergehende Erklärung von Alexijewitschs Assistentin, die einen etwas ratlos zurücklässt: Alexijewitsch sei in „literarischen und privaten Angelegenheiten“nach Berlin gereist. Das sei ihre „normale Routine“.
Aufgrund ihres Gesundheitszustands habe sie Belarus lange nicht verlassen können. Wann sie zurückkehren werde? Das hänge von den „gegenwärtigen Ereignissen und ihrem Gesundheitszustand“ab. Der Deutsche Akademische
Austauschdienst bestätigte, Swetlana Alexijewitsch nach Berlin eingeladen zu haben. Dort werde sie an einer neuen Publikation arbeiten. Und aus dem Auswärtigen Amt in Berlin hieß es, Alexijewitsch werde sich in Berlin auch einer medizinischen Behandlung unterziehen.
Dabei kann man aber wohl davon ausgehen, dass nichts „normale Routine“ist, wie es in der Erklärung von Alexijewitschs Assistentin hieß.
Denn die Literaturnobelpreisträgerin 2015 war die letzte in Belarus und in Freiheit verbliebene Vertreterin des Präsidiums des oppositionellen Koordinationsrates. Alle anderen sechs Mitglieder des Präsidiums waren entweder unter Zwang außer Landes gebracht oder inhaftiert worden.
Sonderbehandlung
Alexijewitsch aber hatten die sonst wenig zimperlichen Dienste des belarussischen Regimes eher mit Samthandschuhen angepackt. Während andere Mitglieder des Rates einfach verschleppt, inhaftiert oder außer Landes verfrachtet wurden, war Alexijewitsch zu Befragungen vorgeladen worden.
Die 72-jährige Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.
Als dann eines Tages doch maskierte Personen vor ihrem Haus auftauchten und mit Klingelterror begannen, hatten sich schließlich 16 Botschafter westeuropäischer Staaten zu ihr eingeladen, um ihre Verhaftung zu verhindern. Kurzum: Mit Alexijewitsch hatten die Regime-Dienste kein leichtes Spiel. Auch wenn die Verleihung des Nobelpreises an sie in Belarus praktisch totgeschwiegen worden war: Mit einer wie ihr, so schien es, hatte das Regime beschlossen, vorsichtig zu verfahren. Und mit Erfolg.
Dämpfer für die Opposition
Dass auch sie jetzt außer Landes ist, ist durchaus ein Dämpfer für die Opposition – wenn auch ein eher symbolischer. Denn Alexijewitsch war nie ein wirkliches Zugpferd der Proteste. Sie war auch nie eine wirkliche Politikerin oder Strategin – viel eher ist sie eine moralische Instanz, die für im engsten Sinne des Wortes freiheitliche und liberale Werte steht. Aber – und da liegt das Problem für das Regime – als solche Instanz macht es wenig Unterschied, wo sie sich aufhält. In der Logik des belarussischen Regimes macht ihre Abwesenheit
Lukaschenko das Leben leichter. Denn mit ihrem Abgang ist der Koordinierungsrat im Land faktisch inexistent und die Opposition führungslos.
Und gerade die vergangenen Wochen haben gezeigt: Die ins Ausland und in Haft gedrängte Opposition kann kaum etwas bewegen. Dass die Opposition diplomatische Kontakte knüpft, dass EUStaaten die Wahl vom 9. August nicht anerkennen, dass die EU den Koordinierungsrat als Übergangsführung von Belarus anerkannt hat, dass die in Litauen weilende Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja durch Europa tourt – all das sind große Gesten, starke Signale.
Aber all dem zum Trotz steht das Regime innerhalb seiner kritischen Strukturen felsenfest – die Rückendeckung Moskaus ist dabei ein maßgeblicher Faktor. Die einzige Waffe der Opposition: moralische Argumente. Und genau was das angeht, ist Alexijewitsch ein Faktor: Denn sie ist so etwas wie der moralische Schutzschirm und zugleich Speerspitze dieser Bewegung. Und als solche macht es durchaus einen Unterschied, ob sie im Land ist oder nicht.