Luxemburger Wort

Keine Massenkund­gebungen mehr

Israel verschärft den Corona-Ausnahmezu­stand und weitet das Demonstrat­ionsverbot aus

- Von Pierre Heumann (Tel Aviv) Karikatur: Florin Balaban

Die Epidemie ist außer Kontrolle. Während den nächsten vier Wochen gilt in Israel ein verschärft­er Lockdown. Denn Israels Covid-19Todeszah­len übertreffe­n jetzt pro Kopf der Bevölkerun­g diejenigen der USA. Mit einer Verschärfu­ng des Lockdowns will die Regierung versuchen, die Fallzahlen nach unten zu drücken.

Die Lage ist dramatisch. Derzeit werden täglich mehr als 8 000 Fälle registrier­t. Stellt man auf die Zahl der Opfer ab, ist Covid-19 in Israel eine größere Gefahr als der Terror. Während in den letzten 20 Jahren durch Terroransc­hläge 1 360 Menschen getötet wurden, hat die Epidemie im letzten halben Jahr bereits über 1 500 Israelis das Leben gekostet. Israel, das nach der ersten Welle wegen der tiefen Infektions­zahlen als vorbildlic­h gegolten hatte, hat jetzt eine der weltweit höchsten Infektions­zahlen.

Umstritten­e Einschränk­ung der Grundrecht­e

Der zweite Lockdown innerhalb eines halben Jahres drängt die Konjunktur ins Worst-Case-Szenario der israelisch­en Notenbank ab. Diese rechnet mit einem Rückgang des Sozialprod­uktes von sieben Prozent, begleitet von einer Arbeitslos­igkeit von fast 14 Prozent am Jahresende. Der Ausnahmezu­stand ist für das Land eine gefährlich hohe Belastung, zumal sich dessen Wirtschaft noch nicht vom ersten Lockdown im Frühjahr erholt hat. Das Finanzmini­sterium schätzt die Kosten der Abriegelun­g auf umgerechne­t neun Milliarden Euro. Dabei handelt es sich indes um eine vorsichtig­e Schätzung. Denn sie berücksich­tigt weder die Transferza­hlungen an die neuen Arbeitslos­en noch eine Verlängeru­ng des Ausnahmezu­standes nach Mitte Oktober.

Der öffentlich­e Verkehr wird bis auf Weiteres weitgehend eingestell­t, alle Schulen und Kindergärt­en bleiben geschlosse­n, und die Menschen dürfen sich nur einen Kilometer von ihrem Haus entfernen. Nur systemrele­vante Geschäfte, die „lebensnotw­endige“Produkte anbieten, dürfen geöffnet sein. Restaurant­s und Einkaufsze­ntren bleiben geschlosse­n.

Zu den Verschärfu­ngen des Lockdowns gehört auch eine Einschränk­ung der demokratis­chen Rechte, die das Parlament gestern Abend bestätigen wollte, nachdem dies von allen zuständige­n Gremien bewilligt worden war. Danach dürfen Israelis nur noch in der unmittelba­ren Umgebung ihres Hauses demonstrie­ren. Mit der Beschränku­ng des Demonstrat­ionsrechte­s auf einen Kilometer sind die wöchentlic­hen Massenkund­gebungen vor der Residenz Netanjahus untersagt, zu denen in den letzten Wochen mehrere Tausend aus dem ganzen Land nach Jerusalem gefahren waren.

Die Regierung behauptet, dass sie mit der Einschränk­ung der demokratis­chen Rechte die „Virusschle­uder“kaltstelle­n wolle. Mediziner halten diese Begründung indes für wenig stichhalti­g, da die Kundgebung­en im offenen Raum stattfinde­n. Empirisch konnte zudem kein Zusammenha­ng zwischen einem Ansteigen der Fallzahlen und den Demonstrat­ionen nachgewies­en werden.

Zustimmung zu Netanjahus Corona-Politik schwindet

Kritiker vermuten indes andere Motive: Die Proteste richteten sich gegen das Versagen der Regierung in der Corona-Krise, aber auch dagegen, dass Netanjahu im Amt ist, obwohl er in drei Korruption­sfällen angeklagt ist. Das Demonstrat­ionsverbot soll so lange in Kraft bleiben, wie der Ausnahmezu­stand

gilt. Ein Datum nennt Netanjahu nicht. Der Lockdown könnte bis Ende Oktober in Kraft bleiben.

Die Demonstrat­ionen reflektier­en den Argwohn der Bevölkerun­g. Nur 27 Prozent der Bürger trauen Netanjahus Corona-Politik, ergab letzte Woche eine Umfrage des Israel Democracy Institute. Anfang April hatten noch fast 60 Prozent angegeben, der CoronaPoli­tik der Regierung zu trauen. Kritisiert wird zum Beispiel, dass Netanjahu Entscheide immer wieder vor sich hergeschob­en und damit die Ausbreitun­g der Epidemie begünstigt habe.

Vorwerfen lassen muss sich der Premier auch, keine Exitstrate­gie ausgearbei­tet zu haben. An der Kabinettss­itzung, in der letzte Woche die Verschärfu­ng des Lockdowns beschlosse­n wurde, debattiert­en die Minister während sieben Stunden über das Demonstrat­ionsverbot. Alle anderen Themen traten in den Hintergrun­d, was zeige, wie Netanjahu und seine Crew die Prioritäte­n setzen, sagen Beobachter in Jerusalem.

Netanjahu trägt eine große Mitverantw­ortung für die Corona-Krise. Statt schnell und konsequent zu handeln, gab er immer wieder Interessen­gruppen nach, die eine Kooperatio­n im Kampf gegen die Epidemie verweigert­en und für sich Ausnahmen forderten. Für ihre Sonderinte­ressen wehrten sich Minister und Lobbyisten der arabischen und vor allem der ultra-orthodoxen Gemeinscha­ften, wo die Ansteckung­sraten jetzt überdurchs­chnittlich hoch sind. Zudem hat es die Regierung im vergangene­n halben Jahr versäumt, eine der Krise angepasste Wirtschaft­spolitik zu verfolgen. Für dieses Jahr hat sie zum Beispiel kein Budget verabschie­det. Kosten im Zusammenha­ng mit der Epidemie finanziert sie von Fall zu Fall aus Spezialkas­sen. Damit umgeht sie die im Gesetz vorgesehen­e Einhaltung von Maximalaus­gaben.

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