Keine Massenkundgebungen mehr
Israel verschärft den Corona-Ausnahmezustand und weitet das Demonstrationsverbot aus
Die Epidemie ist außer Kontrolle. Während den nächsten vier Wochen gilt in Israel ein verschärfter Lockdown. Denn Israels Covid-19Todeszahlen übertreffen jetzt pro Kopf der Bevölkerung diejenigen der USA. Mit einer Verschärfung des Lockdowns will die Regierung versuchen, die Fallzahlen nach unten zu drücken.
Die Lage ist dramatisch. Derzeit werden täglich mehr als 8 000 Fälle registriert. Stellt man auf die Zahl der Opfer ab, ist Covid-19 in Israel eine größere Gefahr als der Terror. Während in den letzten 20 Jahren durch Terroranschläge 1 360 Menschen getötet wurden, hat die Epidemie im letzten halben Jahr bereits über 1 500 Israelis das Leben gekostet. Israel, das nach der ersten Welle wegen der tiefen Infektionszahlen als vorbildlich gegolten hatte, hat jetzt eine der weltweit höchsten Infektionszahlen.
Umstrittene Einschränkung der Grundrechte
Der zweite Lockdown innerhalb eines halben Jahres drängt die Konjunktur ins Worst-Case-Szenario der israelischen Notenbank ab. Diese rechnet mit einem Rückgang des Sozialproduktes von sieben Prozent, begleitet von einer Arbeitslosigkeit von fast 14 Prozent am Jahresende. Der Ausnahmezustand ist für das Land eine gefährlich hohe Belastung, zumal sich dessen Wirtschaft noch nicht vom ersten Lockdown im Frühjahr erholt hat. Das Finanzministerium schätzt die Kosten der Abriegelung auf umgerechnet neun Milliarden Euro. Dabei handelt es sich indes um eine vorsichtige Schätzung. Denn sie berücksichtigt weder die Transferzahlungen an die neuen Arbeitslosen noch eine Verlängerung des Ausnahmezustandes nach Mitte Oktober.
Der öffentliche Verkehr wird bis auf Weiteres weitgehend eingestellt, alle Schulen und Kindergärten bleiben geschlossen, und die Menschen dürfen sich nur einen Kilometer von ihrem Haus entfernen. Nur systemrelevante Geschäfte, die „lebensnotwendige“Produkte anbieten, dürfen geöffnet sein. Restaurants und Einkaufszentren bleiben geschlossen.
Zu den Verschärfungen des Lockdowns gehört auch eine Einschränkung der demokratischen Rechte, die das Parlament gestern Abend bestätigen wollte, nachdem dies von allen zuständigen Gremien bewilligt worden war. Danach dürfen Israelis nur noch in der unmittelbaren Umgebung ihres Hauses demonstrieren. Mit der Beschränkung des Demonstrationsrechtes auf einen Kilometer sind die wöchentlichen Massenkundgebungen vor der Residenz Netanjahus untersagt, zu denen in den letzten Wochen mehrere Tausend aus dem ganzen Land nach Jerusalem gefahren waren.
Die Regierung behauptet, dass sie mit der Einschränkung der demokratischen Rechte die „Virusschleuder“kaltstellen wolle. Mediziner halten diese Begründung indes für wenig stichhaltig, da die Kundgebungen im offenen Raum stattfinden. Empirisch konnte zudem kein Zusammenhang zwischen einem Ansteigen der Fallzahlen und den Demonstrationen nachgewiesen werden.
Zustimmung zu Netanjahus Corona-Politik schwindet
Kritiker vermuten indes andere Motive: Die Proteste richteten sich gegen das Versagen der Regierung in der Corona-Krise, aber auch dagegen, dass Netanjahu im Amt ist, obwohl er in drei Korruptionsfällen angeklagt ist. Das Demonstrationsverbot soll so lange in Kraft bleiben, wie der Ausnahmezustand
gilt. Ein Datum nennt Netanjahu nicht. Der Lockdown könnte bis Ende Oktober in Kraft bleiben.
Die Demonstrationen reflektieren den Argwohn der Bevölkerung. Nur 27 Prozent der Bürger trauen Netanjahus Corona-Politik, ergab letzte Woche eine Umfrage des Israel Democracy Institute. Anfang April hatten noch fast 60 Prozent angegeben, der CoronaPolitik der Regierung zu trauen. Kritisiert wird zum Beispiel, dass Netanjahu Entscheide immer wieder vor sich hergeschoben und damit die Ausbreitung der Epidemie begünstigt habe.
Vorwerfen lassen muss sich der Premier auch, keine Exitstrategie ausgearbeitet zu haben. An der Kabinettssitzung, in der letzte Woche die Verschärfung des Lockdowns beschlossen wurde, debattierten die Minister während sieben Stunden über das Demonstrationsverbot. Alle anderen Themen traten in den Hintergrund, was zeige, wie Netanjahu und seine Crew die Prioritäten setzen, sagen Beobachter in Jerusalem.
Netanjahu trägt eine große Mitverantwortung für die Corona-Krise. Statt schnell und konsequent zu handeln, gab er immer wieder Interessengruppen nach, die eine Kooperation im Kampf gegen die Epidemie verweigerten und für sich Ausnahmen forderten. Für ihre Sonderinteressen wehrten sich Minister und Lobbyisten der arabischen und vor allem der ultra-orthodoxen Gemeinschaften, wo die Ansteckungsraten jetzt überdurchschnittlich hoch sind. Zudem hat es die Regierung im vergangenen halben Jahr versäumt, eine der Krise angepasste Wirtschaftspolitik zu verfolgen. Für dieses Jahr hat sie zum Beispiel kein Budget verabschiedet. Kosten im Zusammenhang mit der Epidemie finanziert sie von Fall zu Fall aus Spezialkassen. Damit umgeht sie die im Gesetz vorgesehene Einhaltung von Maximalausgaben.