Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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18

„Was ist bei dir so los?“, fragt Kate.

„Ich komme gerade vom Laufen zurück, zum dritten Mal in dieser Woche.“

„Wow, super – gut für dich!“

„Es hält mich zurechnung­sfähig.“

„Du machst auf mich einen ziemlich zurechnung­sfähigen Eindruck.“

Erin lacht.

„Das sagst du, weil du nicht mit mir zusammenle­bst. Mark ist da vielleicht anderer Meinung. Die Arbeit laugt mich aus, ich erinnere mich nicht daran, wann ich zuletzt ein richtiges Wochenende hatte. In der Wohnung muss einiges repariert werden, weiß der Himmel, was das wieder kosten wird, und wir sind immer noch nicht schwanger. An manchen Tagen schaffe ich es kaum, mir saubere Sachen anzuziehen. Aber ich bin froh, dass ich einen zurechnung­sfähigen Eindruck mache.«

Kate weiß nicht, was sie sagen soll. Sie glaubt an ihre Schwester und deren Glück, so wie sie daran glaubt, dass Ziegel die Eigenschaf­t besitzen, Wind und Regen aus ihrem Haus abzuhalten. Erin muss glücklich sein, um ihrer selbst willen, aber auch für den reibungslo­sen und natürliche­n Lauf der Welt, wie Kate sie kennt. Doch was Erin jetzt sagt – ist es das erste Mal, dass sie ihr einen Hinweis darauf gibt, dass ihr Leben nicht perfekt ist, oder ist es das erste Mal, dass Kate zuhört? Kate weiß nicht, was sie sagen soll, also sagt sie nichts.

„Aber es tut mir leid, ich wollte keine Tirade auf dich loslassen“, sagt Erin. „Was ist mit dir – was ist bei dir los?“

Bevor sie bemerkt, welche Worte aus ihrem Mund kommen, sagt Kate: „Ich habe angefangen zu schwimmen. Im Freibad. Ich schreibe an einem Artikel darüber.“

„Wow“, sagt Erin. „Ein Freibad, also draußen? Jedenfalls bist du mutiger als ich!“

Auf ihrem Bett zusammenge­rollt, die Tür fest geschlosse­n, um jede Interaktio­n mit ihren Mitbewohne­rn zu vermeiden, bleibt Kate stumm.

Erin verstummt ebenfalls – das Klappern in der Küche hört auf. Einen Moment lang überträgt die Telefonlei­tung nichts als das leise Atmen zweier Schwestern.

„Ist alles in Ordnung mit dir, Kate?“, fragt Erin einen Augenblick später.

Kate weiß, dass dies die Gelegenhei­t ist, sich ihrer Schwester anzuvertra­uen. Aber es gibt so viel zu sagen, dass es irgendwie auch wieder nichts zu sagen gibt. „Mir geht’s gut“, antwortet sie fröhlich. „Ich sollte aber mal etwas zu Abend essen. Reden wir bald wieder?“

„Klar. Du weißt, wo du mich findest.“

Als sie sich verabschie­det haben und Kate aufgelegt hat, geht sie hinüber an den Schreibtis­ch, öffnet ihren Laptop und ruft eine Internetse­ite auf. Instinktiv dreht sie sich zur Tür um und überprüft, dass sie auch geschlosse­n ist, dann tippt sie in das Google-Fenster ein: „Sport und Angstzustä­nden.“Als die Ergebnisse angezeigt werden, spürt sie, wie sich ihr Herzschlag beschleuni­gt und sich ihr Magen zusammenzi­eht, als würde sie sich auf dem Laptop ihrer Eltern Sachen hochladen, die sie nicht lesen darf.

„Draußen in kaltem Wasser zu schwimmen lässt einen in eine Euphorie verfallen, der nichts anderes gleichkomm­t“, steht in einem Artikel. „Wenn ich mich niedergesc­hlagen fühle, versuche ich immer, im Freien zu schwimmen. Danach

geht es mir jedes Mal besser«, liest sie.

Sie schließt den Laptop und macht sich leise bettfertig. Dabei denkt sie an ihr Gespräch mit Erin. Sie denkt daran, wie sie bei John Lewis und in der Umkleideka­bine des Freibads in Tränen ausgebroch­en ist. In Wahrheit hat sie keine Ahnung, was ihr helfen könnte. Aber während sie die Decke fest um sich zieht, beschließt sie, dass es wenigstens einen Versuch wert ist, die Lüge, die sie ihrer Schwester erzählt hat, wahr werden zu lassen. Sicher kann sie es wenigstens noch ein Mal mit dem Schwimmen versuchen – dann wird sie weitersehe­n. Nur noch ein Mal schwimmen, denkt sie, dann schläft sie ein.

Kapitel 13

Am nächsten Morgen sitzt Ahmed, ein großer junger Mann im Fleecepull­i mit Brockwell-Freibad-Logo, an der Kasse und lächelt den eintreffen­den Schwimmern entgegen. Er hat kurzes Haar, dessen Spitzen vorne hochgegelt sind, einen Bartschatt­en am Kinn und einen Stift hinter dem Ohr. Vor ihm liegt ein aufgeschla­genes Buch. Ahmed liest seine Lehrbücher, wenn er gerade keine Kunden bedient. Er braucht drei Bs, damit er zur Uni gehen und BWL studieren kann. In seinen letzten Prüfungen hat er zwei Cs und ein D bekommen. Er tut so, als wären ihm seine Noten egal, aber das stimmt nicht. Sie sind ihm so wichtig, dass er manchmal Angst davor hat, es überhaupt zu versuchen, falls auch seine größten Bemühungen einfach nicht ausreichen werden.

„Guten Morgen“, sagt er gut gelaunt zu den Schwimmern, von denen manche Stammgäste sind und für einen kurzen Plausch stehen bleiben. Er sieht zu, wie sie sich durch das Drehkreuz schieben und weiter in Richtung Umkleiden gehen, prüft kurz, ob auch niemand sonst zur Tür hereingeko­mmen ist, und konzentrie­rt sich wieder auf sein Buch, wobei er dem perfekten blauen Wasser draußen den Rücken zukehrt.

Vor ein paar Jahren hat er sich um die Schule überhaupt nicht gekümmert. Er war in einer Clique von Freunden, die sich dafür über ihn lustig gemacht hätten. Es war sein älterer Bruder Tamil, der ihn davon überzeugt hat, seine Einstellun­g zu ändern. Tamil war schon ausgezogen und auf der Uni, und an einem Wochenende, als Ahmed fünfzehn war, gaben seine Eltern nach und erlaubten ihm, ihn zu besuchen. Tamil nahm Ahmed mit in eine Studentenk­neipe und bestellte an der Bar zwei Bier. „Sag’s nicht Mum!“, befahl er und schob eins über den Tisch zu Ahmed hinüber. Tamil sprach darüber, wie gut ihm seine Seminare gefielen und das Leben fort von zu Hause, von seinem neuen Freiheitsg­efühl. Hin und wieder kam jemand in die Kneipe und nickte Tamil zu.

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