Die Werkbank der Welt war gestern
Chinas Wirtschaft vollzieht einen grundlegenden Richtungswechsel
Quasi über Nacht machten die Planierraupen und Abrissbirnen im August das Arbeiterstadion im Stadtzentrum Pekings dem Erdboden gleich: Wo früher der sozialistische Prachtbau mit 64 000 Zuschauerrängen stand, werken nun Tag und Nacht Dutzende Arbeiter, um ein neues hochmodernes Fußballstadion zu errichten. In rund zwei Jahren soll es fertig sein, rechtzeitig für die Asienmeisterschaft. Im Corona-Jahr beweist das Großbauprojekt: Die chinesische Botschaft brummt wieder, fast wie zu alten Zeiten.
Dies legen auch die neuesten Zahlen der nationalen Statistikbehörde vom Mittwoch nahe: Der offizielle Einkaufsmanager-Index für das verarbeitende Gewerbe stieg von 51,0 im August auf stolze 51,5 im September an. Damit liegt der Wert nicht nur über dem Grenzwert von 50, der positives Wachstum ausdrückt, sondern auch deutlich über den Prognosen der meisten Ökonomen.
Neue Regeln in Peking
Auch für den Rest der Welt sind dies gute Nachrichten, profitiert doch insbesondere Europa von einem stabilen Wirtschaftswachstum Chinas. Und dennoch sorgen sich heimische Unternehmen, dass in Peking bald andere Spielregeln gelten können.
Im Mai nämlich hat die Staatsführung ein neues Konzept unter dem Schlagwort „Dual Circulation“vorgestellt. Zwar blieb Präsident Xi Jinping bislang Details schuldig, doch grob ausgedrückt geht es bei dem Schlagwort darum, die Wirtschaft in zwei Kreisläufe einzuteilen: ein innerer, der vom Binnenkonsum getrieben wird, und ein äußerer, der von Exporten und Importen abhängt. Künftig wolle sich die Volksrepublik vor allem auf den heimischen Markt fokussieren. Letztendlich kann dies als Schutzmaßnahme gegen Amerikas Handelskrieg unter Donald Trump interpretiert werden. China versucht, seine Abhängigkeit
von Technologieimporten zu senken und diese künftig selber zu produzieren. Für europäische Zulieferer sind dies keine guten Nachrichten.
„Mittlerweile hat unsere Wirtschaft andere Vorteile als noch vor zehn Jahren. Es ist nicht mehr so, dass wir nur über günstige Arbeitskräfte verfügen“, sagt Yao Jingyuan, ehemaliger Chef-Ökonom des nationalen Statistikbüros: „Über 400 Millionen Chinesen gehören der Mittelschicht an, das sind mehr als in den USA und Japan zusammen“. Anders ausgedrückt: China verfügt über einen Markt, der sich zunehmend selbst genügt.
Bisher litt die chinesische Wirtschaft jedoch darunter, dass der durchschnittliche Bürger sein Geld vornehmlich sparte, anstatt es auszugeben. Das hat zum einen mit dem lediglich rudimentärem Gesundheitsund Sozialsystem zu tun, zum anderen weil die Löhne schlicht zu niedrig sind. Noch immer leben 600 Millionen Chinesen von weniger als 1 000 Yuan im Monat – umgerechnet 125 Euro. Gleichzeitig gibt es nach wie vor eine starke Einkommensschere: Die urbanen Städter der Ostküste verdienen im Schnitt fast dreimal so viel wie die Landbewohner in den Provinzen.
Neuer Fünfjahresplan
„Es ist wichtig, mehr Geld in die Taschen des Volks fließen zu lassen“, sagt Yao. Dafür brauche es vor allem Reformen, etwa durch Sonderwirtschaftszonen und Marktöffnungen. Doch gleichzeitig stellt der Wirtschaftsexperte auch eine kritische Forderung an die eigene Regierung: „Erst wenn die Regierung künftig mit einem schmalen Haushalt auskommt, landet mehr bei den Leuten. Das bedeutet, dass die Regierung seine eigenen Interessen beschneiden muss“. Bislang jedoch hat die Regierung im Zuge der Corona-bedingten Wirtschaftskrise gegenteilig gehandelt: Um kurzfristig Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor zu sichern, investierte sie vornehmlich in Infrastruktur oder Bauprojekte, wie etwa auch die Errichtung eines neuen Fußballstadions in Peking. Davon profitieren vor allem die Staatsunternehmen, mittelständische Betriebe der Privatwirtschaft haben meist das Nachsehen. Laut chinesischen Ökonomen sei dies in die richtige Strategie für Krisenzeiten, doch langfristig müsse ein Kurswechsel hin zur wirtschaftlichen Öffnung erfolgen. In wenigen Wochen schließlich wird die Kommunistische Partei ihren neuen Fünfjahresplan vorstellen, in dem auch die konkreten Wirtschaftsziele definiert sind. Erst dann lässt sich nachprüfen, wie ernst es die Regierung unter Xi Jinping mit ihren Bestrebungen zu weiteren Marktreformen meint.