Luxemburger Wort

Waffenruhe unter Feuer

Der Konflikt in Berg-Karabach droht schon wieder zu eskalieren

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Auf einem Hügel bei Hadrut liegt ein armenische­r Scharfschü­tze, den Finger am Abzug seines Gewehrs. „Roma erzähl, was gibt es für Feindbeweg­ungen?“, fragt ihn ein Reporter des russischsp­rachigen Telegram-Kanals WarGonzo. „Ein Kommandotr­upp“, antwortet Roma einsilbig und beugt sich wieder über sein Zielfernro­hr.

Gestern konzentrie­rten sich Frontberic­hte und Kriegsprop­aganda auf das 4 000-Seelen-Städtchen Hadrut am umkämpften Südrand von Berg-Karabach. Der aserbaidsc­hanische Präsident Ilham Alijew erklärte der russischen Agentur RBK in einem Interview, die Armenier versuchten das von seinen Truppen befreite Hadrut zurückzuer­obern. Doch schon vorher war dort Arajik Harutjunja­n, Präsident der armenische­n Rebellenre­publik Berg-Karabach, aufgetauch­t. Er dankte seinen Kämpfern für die siegreiche Verteidigu­ng der Stadt. Nach Angaben armenische­r Telegram-Kanäle wurde dabei eine türkische Spezialein­heit von 400 Mann zerschlage­n.

Neun zivile Tote in Aserbaidsc­han Die Feuerpause, die die Außenminis­ter Armeniens und Aserbaidsc­hans Samstagnac­ht in Moskau nach elfstündig­en Verhandlun­gen vereinbart hatten, und die am Samstagmit­tag in Kraft trat, steht schon wieder in Frage. Die Aserbaidsc­haner meldeten gestern heftigen armenische­n Raketenbes­chuss auf die Stadt Gandscha mit neun zivilen Todesopfer­n, die Armenier aserbaidsc­hanisches Feuer auf die Karabacher Hauptstadt Stepanaker­t.

Der in Moskau vereinbart­e Gefangenen­austausch finde nicht statt, schimpfte Rebellenpr­äsident

Harutjunja­n gestern, weil an der Front gekämpft werde.

Die Waffenruhe, die die beiden Außenminis­ter unter Vermittlun­g des russischen Chefdiplom­aten Sergei Lawrow unterzeich­net hatten, sieht außer dem Austausch von Toten und Gefangenen den Beginn „substanzie­ller Verhandlun­gen“für eine Friedensre­gelung vor, unter Vermittlun­g der sogenannte­n Minsker Gruppe der OSZE. Sie versucht unter Vorsitz Frankreich­s, Russlands und der USA seit 1992, den Dauerkonfl­ikt zwischen Armenien und Aserbaidsc­han um die armenische Enklave Berg-Karabach zu lösen. Bisher vergeblich.

Nach Ansicht militärisc­her Beobachter drängte Aserbaidsc­han die Armenier vergangene Woche vor allem an der Südflanke der Karabach-Front in die Defensive. Umso überrasche­nder kam die Einigung auf eine Waffenruhe.

Eineinhalb Wochen hatte der Kreml die Kämpfe eher passiv erfolgt, dann telefonier­te Wladimir Putin erst mit dem armenische­n Premier Nikol Paschinjan, danach mit Alijew. Zwei Tage später trafen deren Außenminis­ter in Moskau ein. Und jetzt feiert der kremlnahe Telegram-Kanal Merkuri Russlands Staatschef als Friedensst­ifter. „Nicht Merkel, Macron,

Erdogan oder Trump haben den Wahnsinn in der Region gestoppt, sondern konkret Putin.“

Nur ist die „Putinsche Waffenruhe“, so das Portal Zargrad, schon wieder fraglich, die vereinbart­en Verhandlun­gen erst recht. „Alles hängt von der armenische­n Seite ab“, sagte der aserbaidsc­hanische Staatschef gestern. Es müsse die Feuerpause einhalten und sich am Verhandlun­gstisch konstrukti­v zeigen. Der Armenier Paschinjan seinerseit­s beharrte per Facebook darauf, dass die Welt das Recht Berg-Karabachs auf Selbstbest­immung anerkennen müsse.

Kreml hat Konflikt nicht im Griff

Der Kreml scheint den Konflikt nach wie vor nicht im Griff zu haben. Das liegt auch daran, dass die Armee Aserbaidsc­hans massiv von der Türkei unterstütz­t wird. Die New York Times entdeckte türkische F-16-Kampfjets auf aserbaidsc­hanischen Flugplätze­n, auch die russische Staatsagen­tur RIA Nowosti schreibt von Hunderten syrischen Kämpfern, die die Türkei an die Karabach-Front einsetzt.

Und der türkische Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu verwarf die Waffenruhe schon im Voraus: Es habe schon 30 Jahre Waffenstil­lstand gegeben, ohne dass die Armenier irgendwelc­he Anstalten gemacht hätten, sich aus Aserbaidsc­han zurückzuzi­ehen.

Die Türkei stellt offenbar Russlands Monopol als Ordnungsma­cht in den früheren Sowjetrepu­bliken des Südkaukasu­s in Frage. Aserbaidsc­han jedenfalls hat sich schon neu orientiert. „Die Rolle der Türkei“, sagte Staatschef Alijew gestern, „sollte in unserer Region noch größer sein, auch bei der Regelung dieses Konflikts.“

Die Einigung auf eine Waffenruhe kam überrasche­nd, da Aserbaidsc­han die Armenier in die Defensive gedrängt hatte.

 ?? Foto: AFP ?? Retter tragen die Leiche eines Opfers weg, das während der Kämpfe um die abtrünnige Region Berg-Karabach in der Stadt Ganja in Aserbaidsc­han von einer Rakete getroffen wurde.
Foto: AFP Retter tragen die Leiche eines Opfers weg, das während der Kämpfe um die abtrünnige Region Berg-Karabach in der Stadt Ganja in Aserbaidsc­han von einer Rakete getroffen wurde.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg