Waffenruhe unter Feuer
Der Konflikt in Berg-Karabach droht schon wieder zu eskalieren
Auf einem Hügel bei Hadrut liegt ein armenischer Scharfschütze, den Finger am Abzug seines Gewehrs. „Roma erzähl, was gibt es für Feindbewegungen?“, fragt ihn ein Reporter des russischsprachigen Telegram-Kanals WarGonzo. „Ein Kommandotrupp“, antwortet Roma einsilbig und beugt sich wieder über sein Zielfernrohr.
Gestern konzentrierten sich Frontberichte und Kriegspropaganda auf das 4 000-Seelen-Städtchen Hadrut am umkämpften Südrand von Berg-Karabach. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew erklärte der russischen Agentur RBK in einem Interview, die Armenier versuchten das von seinen Truppen befreite Hadrut zurückzuerobern. Doch schon vorher war dort Arajik Harutjunjan, Präsident der armenischen Rebellenrepublik Berg-Karabach, aufgetaucht. Er dankte seinen Kämpfern für die siegreiche Verteidigung der Stadt. Nach Angaben armenischer Telegram-Kanäle wurde dabei eine türkische Spezialeinheit von 400 Mann zerschlagen.
Neun zivile Tote in Aserbaidschan Die Feuerpause, die die Außenminister Armeniens und Aserbaidschans Samstagnacht in Moskau nach elfstündigen Verhandlungen vereinbart hatten, und die am Samstagmittag in Kraft trat, steht schon wieder in Frage. Die Aserbaidschaner meldeten gestern heftigen armenischen Raketenbeschuss auf die Stadt Gandscha mit neun zivilen Todesopfern, die Armenier aserbaidschanisches Feuer auf die Karabacher Hauptstadt Stepanakert.
Der in Moskau vereinbarte Gefangenenaustausch finde nicht statt, schimpfte Rebellenpräsident
Harutjunjan gestern, weil an der Front gekämpft werde.
Die Waffenruhe, die die beiden Außenminister unter Vermittlung des russischen Chefdiplomaten Sergei Lawrow unterzeichnet hatten, sieht außer dem Austausch von Toten und Gefangenen den Beginn „substanzieller Verhandlungen“für eine Friedensregelung vor, unter Vermittlung der sogenannten Minsker Gruppe der OSZE. Sie versucht unter Vorsitz Frankreichs, Russlands und der USA seit 1992, den Dauerkonflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die armenische Enklave Berg-Karabach zu lösen. Bisher vergeblich.
Nach Ansicht militärischer Beobachter drängte Aserbaidschan die Armenier vergangene Woche vor allem an der Südflanke der Karabach-Front in die Defensive. Umso überraschender kam die Einigung auf eine Waffenruhe.
Eineinhalb Wochen hatte der Kreml die Kämpfe eher passiv erfolgt, dann telefonierte Wladimir Putin erst mit dem armenischen Premier Nikol Paschinjan, danach mit Alijew. Zwei Tage später trafen deren Außenminister in Moskau ein. Und jetzt feiert der kremlnahe Telegram-Kanal Merkuri Russlands Staatschef als Friedensstifter. „Nicht Merkel, Macron,
Erdogan oder Trump haben den Wahnsinn in der Region gestoppt, sondern konkret Putin.“
Nur ist die „Putinsche Waffenruhe“, so das Portal Zargrad, schon wieder fraglich, die vereinbarten Verhandlungen erst recht. „Alles hängt von der armenischen Seite ab“, sagte der aserbaidschanische Staatschef gestern. Es müsse die Feuerpause einhalten und sich am Verhandlungstisch konstruktiv zeigen. Der Armenier Paschinjan seinerseits beharrte per Facebook darauf, dass die Welt das Recht Berg-Karabachs auf Selbstbestimmung anerkennen müsse.
Kreml hat Konflikt nicht im Griff
Der Kreml scheint den Konflikt nach wie vor nicht im Griff zu haben. Das liegt auch daran, dass die Armee Aserbaidschans massiv von der Türkei unterstützt wird. Die New York Times entdeckte türkische F-16-Kampfjets auf aserbaidschanischen Flugplätzen, auch die russische Staatsagentur RIA Nowosti schreibt von Hunderten syrischen Kämpfern, die die Türkei an die Karabach-Front einsetzt.
Und der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu verwarf die Waffenruhe schon im Voraus: Es habe schon 30 Jahre Waffenstillstand gegeben, ohne dass die Armenier irgendwelche Anstalten gemacht hätten, sich aus Aserbaidschan zurückzuziehen.
Die Türkei stellt offenbar Russlands Monopol als Ordnungsmacht in den früheren Sowjetrepubliken des Südkaukasus in Frage. Aserbaidschan jedenfalls hat sich schon neu orientiert. „Die Rolle der Türkei“, sagte Staatschef Alijew gestern, „sollte in unserer Region noch größer sein, auch bei der Regelung dieses Konflikts.“
Die Einigung auf eine Waffenruhe kam überraschend, da Aserbaidschan die Armenier in die Defensive gedrängt hatte.