„Freuen uns über jede Geschichte“
Historiker sammeln in der Annexe 22 auf dem Escher Brillplatz Dokumente und Lebensberichte aus dem Minett
Esch/Alzette. „Es geht uns nicht nur um Stahlwerke und Bergbauarbeiter“, setzt Stefan Krebs gleich voraus. Er ist Mitarbeiter am Institut der Zeitgeschichte der Universität, dürfte dieser Tage aber mehr Zeit im Escher Zentrum als in Belval verbringen. Seit Ende September und noch bis zum 23. Oktober haben er und Kollegen sich in der Annexe 22 am Brillplatz einquartiert. Diese wurde kurzerhand zur Geschichtswerkstatt umdisponiert.
Dort warten sie auf Personen, die eine Bindung zur Minetteregion haben und die bereit sind, ihre persönliche Lebensgeschichte aus dem vergangen Jahrhundert zu erzählen. Und idealerweise den Historikern auch private Dokumente, zum Beispiel Familienfotos, zur Verfügung stellen, um sie zu digitalisieren. „Wir sind nicht nur am Besonderen interessiert, sondern am Alltagsleben. Das kann ein Cafébesitzer sein, der Zimmer vermietet, oder eine Hausfrau, die Probleme mit der Wäsche wegen der Luftverschmutzung hat“, erklärt Stefan Krebs weiter.
Stichwort Umweltverschmutzung. „Es geht uns darum, herauszufinden, wie solche Thematiken im Alltag wahrgenommen wurden und, wie mit ihnen umgegangen wurde.“So erzählte ein Zeitzeuge, dass einst mehr oder weniger ernsthaft behauptet wurde, die Luft sei im Süden eisenhaltig. Sie einzuatmen habe die Leute stärker gemacht.
Auch sind die Historiker bei ihren Recherchen auf den Arzt Léon Molitor gestoßen, der Ende der Fünfziger mit Gleichgesinnten einen Bericht über Umweltverschmutzung im Süden erstellte.
Personen, die darüber im Bild sind, dürfen sich gerne melden.
Ein anderes Thema stellt die Integration von ausländischen Arbeitern
dar. Im Großen und Ganzen sei die Integration recht gut verlaufen, sagt Stefan Krebs. Doch habe es bestimmt auch Schattenseiten
Stefan Krebs zeigt sich mit dem bisherigen Anlauf zufrieden.
gegeben. Diese grauen Schattierungen sind es, die die Historiker interessieren. Sie erhoffen sich, sie in persönlichen Geschichten herauszuhören. Deshalb führen sie mit manchen Personen, die sie aufgesucht haben, ausführlichere Interviews. Die ist sowohl in den Universitätsgebäuden als auch bei den Personen zu Hause möglich.
Resultate für Esch 2022
Die Erkenntnisse, die daraus gewonnen werden, sollen nicht nur der Geschichtsaufarbeitung dienen, sondern auch bei Ausstellungen anlässlich der europäischen Kulturhauptstadt Esch 2022 vorgestellt werden. Die Rede ist von einer virtuellen Ausstellung, aber auch von einer materiellen, die möglicherweise in der Massenoire in Belval gezeigt werden könnte.
Entsprechend dankbar sind Stefan Krebs und seine Kollegen für jeden, der sich entscheidet, mitzumachen und bereit ist, seine Erinnerungen zu teilen. Die Historiker richten daher einen Appell an alle Interessenten.
Etwas zu bieten haben sie bereits jetzt: Sechs Kurzvideos wurden produziert. Sie geben die Geschichten von fiktiven oder realen Personen aus Esch wieder. Diese werden abends auf den zwei blickdichten Fenstern der Annexe 22 ausgestrahlt. Dort hängt auch ein Sensor. Zuschauer, die sich draußen vor den Fenstern befinden, können, indem sie sich entsprechend positionieren, eines der sechs Videos starten.
Stefan Krebs rät, sich die Installation anzuschauen, wenn es dunkel ist, dann sei die Bildwiedergabe besser. Die Filme werden von Mittwoch bis Sonntag von 17 Uhr an gezeigt. An diesen Tagen sind die Historiker jeweils von 10 bis 17 Uhr vor Ort und warten darauf, neue Lebensgeschichten erzählt zu bekommen.