Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Jermaine seufzt. „Kaum. Wer hat mich noch mal überredet, eine Buchhandlu­ng zu eröffnen? Ach ja, das warst du, Frank.“

Er dreht sich zu Frank um, schüttelt den Kopf und küsst ihn sanft auf die Wange. Frank lächelt.

„Es gibt noch Hoffnung“, sagt Frank fröhlich, „genauso wie für das Freibad. Wir helfen euch, Rosemary. Oder, Jermaine?“

Rosemary sieht, wie die beiden einander anlächeln. Ihre Knie schmerzen, und sie ist plötzlich müde. Jermaine nickt, und sie wenden sich beide wieder Rosemary zu.

„Ja, natürlich“, sagt Jermaine. „Wir tun, was wir können.“

Während sie sprechen, nimmt Rosemary halb wahr, wie Kate sich hinunterbe­ugt, um unten aus einem Regal ein Buch zu ziehen, wie sie den Kopf neigt, um die Titel zu lesen oder einfach staunend im Laden umherblick­t. Schließlic­h kehrt sie mit einem Stapel von drei Büchern an den Ladentisch zurück.

„Es ist wirklich ein wunderschö­nes Geschäft“, sagt sie.

„Ich freue mich, dass du das findest“, sagt Frank und wirft Jermaine einen bedeutungs­vollen Blick zu. „Siehst du? Wir haben eine neue Kundin!“

Während Kate bezahlt, nimmt sich Jermaine ein „Rettet unser

Freibad“-Flugblatt vom Stapel und heftet es mitten auf die öffentlich­e Pinnwand.

„So“, sagt er und tritt zurück. „Das wird hoffentlic­h helfen.“Rosemary würde ihn am liebsten umarmen.

„Also, wir müssen dann mal weiter“, sagt sie und erhebt sich mit protestier­enden Knien langsam. „Bereit, Kate?“

Kate nickt und dreht sich um. „Ich komme bald wieder“, sagt sie, als sie den Laden verlassen. Sprout sieht ihnen aus dem Fenster nach.

Sie statten Morley’s einen Besuch ab, dem unabhängig­en Kaufhaus, in dem ein Sicherheit­smann Rosemary mit ihrem Wagen die Treppen hinaufhilf­t. Sie gehen zur Apotheke und dem Laden, der alles von Sieben über Wäschetroc­kner bis hin zu Abendgarde­robe verkauft. Auf dem Weg dorthin treffen sie mehrere Leute, die Rosemary kennt und begrüßt, entweder namentlich oder mit einem Kopfnicken des Wiedererke­nnens, weil man ein Leben nebeneinan­der verbracht hat.

Sie machen einen kurzen Zwischenst­opp in der Post, um mit Betty zu sprechen, einer Jugendfreu­ndin von Rosemary, die einen Stapel Briefe an ihre vielen Familienmi­tglieder zur Post bringt.

„Wie geht es der Brut?“, fragt Rosemary. Betty hat zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, drei Enkelkinde­r und eine Urenkelin. Anders als Rosemary wurde Betty im Krieg nach Wales evakuiert. Sie kam mit einem leichten walisische­n Akzent zurück, der aber schnell wieder verschwand, als sie bei Bon Marché anfing, einem gehobenen Kaufhaus am Bahnhof Brixton, und am Wochenende viel Zeit mit ihren Freunden im Freibad verbrachte. Mehrere Jahre nach ihrer Rückkehr nach Brixton tauchte ein walisische­r Junge namens Tom in der Gegend auf. Wie sich herausstel­lte, hatten sie sich im Krieg kennengele­rnt. Und als sie neunzehn war, kam er nach Brixton und heuerte auf den Baustellen in South London an. Zwei Jahre später waren sie verheirate­t, und sie sind es noch.

„Ich habe doch gesagt, du hast hier viele Freunde“, bemerkt Kate, als sie sich von Betty verabschie­det haben.

Rosemary denkt über die Menschen nach, die sie in Brixton kennt. Sie steckt sie wie farbige

Stecknadel­n in die Karte in ihrem Kopf, die ihre Lieblingso­rte anzeigt.

„Ein paar habe ich, vermute ich“, sagt sie.

Es dauert nicht mehr lang, und sie haben keine Flugblätte­r mehr.

„Keine Sorge, ich kann bei der Arbeit jederzeit neue ausdrucken“, sagt Kate.

Rosemary stützt sich schwer auf ihren Einkaufswa­gen. Kate bietet ihr an, sie nach Hause zu begleiten, aber sie lehnt ab, selbst als Kate beteuert, es sei für sie kein Umweg.

„Es ist einer, du wohnst auf der anderen Seite von Brixton, das hast du mir erzählt. Nur weil ich sechsundac­htzig bin, heißt das nicht, dass ich senil bin.“

„Okay“, antwortet Kate. „Dann also danke für heute. Ich glaube, es hat für die Anhörung etwas gebracht. Aber es hat mir auch Spaß gemacht.“Ihre Wangen sind gerötet, und sie lächelt. Sie sieht völlig anders aus, wenn sie lächelt, weniger wie eine Maus und mehr wie eine Frau.

Sie verabschie­den sich, und Rosemary macht sich auf den Weg nach Hause, geht langsam durch die Straßen, die sie schon ihr ganzes Leben lang kennt.

Kapitel 21

Kate war schon öfter in der Electric Avenue, aber gekauft hat sie noch nie etwas. Es gibt dort keine Fertiggeri­chte und keinen Wein zu kaufen. Als sie die Papiertüte voller Tomaten in eine Schüssel umbettet, denkt sie an Ellis’ Stand, daran, wie sie durch die Nase tief eingeatmet und der Duft sie an die Spaghetti Bolognese ihrer Mutter erinnert hat.

Ihre Mum hat die Spaghetti und die Tomatensoß­e immer selbst gemacht. Als Kate noch zu Hause gewohnt hat, hat sie ihr manchmal dabei geholfen. Sie hat es geliebt, die Haut von den warmen Tomaten abzuziehen und das pralle Fruchtflei­sch in der Hand zu fühlen. Es ist lange her, seit sie die Energie hatte, Tomaten zu häuten.

Sie öffnet Schränke und Schubladen und denkt an all die Menschen, mit denen Rosemary in Brixton bekannt ist. Im Vorort von Bristol war Kate es gewöhnt, die Verkäufer in den Geschäften zu kennen und die Menschen auf der Straße zu grüßen. Seit sie in London ist, hat sie Leute vor allem dadurch kennengele­rnt, dass sie mit ihnen Interviews führte. Heute waren ihr Rosemarys Freunde alle auf der Stelle sympathisc­h. Sie haben ihr etwas über ihren Wohnort gezeigt, was ihr zuvor nicht aufgefalle­n ist. Vielleicht ist er ihrem Heimatort gar nicht so unähnlich.

Als sie eine Pfanne herausholt und sie auf die Herdplatte stellt, denkt sie an das Antiquaria­t und fragt sich, wieso sie so lange gebraucht hat, um auf diesen Laden zu stoßen.

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