Luxemburger Wort

Buchpreis für „Heldinnene­pos“

Anne Weber setzt sich im Rennen um den besten deutschspr­achigen Roman des Jahres durch

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Frankurt am Main. Mit 16 Jahren tritt Anne Beaumanoir in die Résistance ein, rettet jüdische Kinder und wird Kommunisti­n. Später wird sie Medizineri­n und geht im Kampf für ein unabhängig­es Algerien in den Maghreb und dafür ins Gefängnis. Dann kommen Flucht und die Trennung von Familie und Kindern. Heute lebt die 96-Jährige im Süden Frankreich­s. Dem außergewöh­nlichen Leben der Französin hat die Schriftste­llerin Anne Weber ein ebenso ausgefalle­nes Buch gewidmet: „Annette, ein Heldinnene­pos“. Am Montagaben­d gewann sie dafür den Deutschen Buchpreis 2020.

„Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen. Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als auf diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch „Gott-hats-gemacht“, im Süden Frankreich­s. Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.“

Mit diesen Sätzen beginnt das Buch, für dessen literarisc­he Form die 55-jährige Autorin das Epos gewählt hat: Ein antiker Referenzra­hmen, in dem es traditione­ll um Götter und Helden geht, den Anne Weber auf ihre Weise gelungen ästhetisie­rt.

Feine Ironie und starke Sprache

Der Stil ist rhythmisch, die Struktur der Verse erkennbar und die Spracharbe­it von ungewöhnli­cher Originalit­ät. Wie auch in „Ahnen. Ein Zeitreiset­agebuch“, in dem sie sich auf die Suche nach den Spuren ihres Großvaters macht. Webers Texte zeichnen sich durch formale Experiment­ierfreudig­keit und sprachlich­e Beweglichk­eit aus.

Die Heldin ihres Buchs, die am 30. Oktober 97 Jahre alt wird, hat Weber auf einer Podiumsdis­kussion

in Frankreich getroffen. Die Begegnung sei für Weber ein „Coup de foudre“gewesen, Liebe auf den ersten Blick, wie sie schreibt. Daraufhin folgten mehrere Begegnunge­n mit Anne Beaumanoir, auch Annette genannt.

Weber nimmt die entsubjekt­ivierte Position der Protagonis­tin ein, die ihr Leben dem Kampf für Gerechtigk­eit, Gleichheit, Freiheit und Brüderlich­keit gewidmet hat. Sie erzählt deren Biografie, die geprägt ist von Widerstand, Gewalt, Tod, Verrat, Gefängnis, Flucht und Exil.

Das Heldinnene­pos schwankt zwischen Erzählung, Fakten und vielen Fragen, wie die, warum Revolution­äre später selber foltern und töten? Unter der achtjährig­en Alleinherr­schaft der FLN, deren Mitglied Beaumanoir war, sollen nach der Unabhängig­keit ungefähr 19 000 Zivilisten umgebracht worden sein, über 16 000 von ihnen waren Algerier – Rivalen der FLN oder Andersdenk­ende.

Weber wurde am 13. November 1964 in Offenbach am Main geboren, lebt seit 1983 jedoch in Frankreich, wo sie an der Pariser Sorbonne französisc­he Literatur und Vergleiche­nde Literaturw­issenschaf­t studierte. Sie selbst übersetzt ihre Bücher, sobald sie geschriebe­n sind. Anfänglich schrieb sie auf Französisc­h und übersetzte ins Deutsche. Inzwischen verfasst sie ihre Texte in deutscher Sprache, um sie danach ins Französisc­he zu übertragen. Eine Besonderhe­it – ebenso wie ihre literarisc­he Experiment­ierfreudig­keit und subtile erzähleris­che Vermittlun­g.

Die übrigen fünf Autoren der Shortlist waren Bov Bjerg („Serpentine­n“),

Die Kraft von Anne Webers Erzählung kann sich mit der Kraft ihrer Heldin messen. Aus der Begründung der Jury

Thomas Hettche („Herzfaden“), Deniz Ohde („Streulicht“), Dorothee Elmiger („Aus der Zuckerfabr­ik“) und Christine Wunnicke („Die Dame mit der bemalten Hand“). Insgesamt hatten die sieben Jurymitgli­eder 206 Titel gesichtet, die zwischen Oktober 2019 und September 2020 erschienen sind. Im vergangene­n Jahr hatte Saša Stanišic den Preis für seinen Roman „Herkunft“erhalten. In seiner Dankesrede griff der aus Bosnien stammende Autor den Literaturn­obelpreist­räger Peter Handke für dessen Äußerungen über den Jugoslawie­nkrieg an und entfachte damit eine Literaturd­ebatte. dpa

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Foto: dpa Triumph für eine Vermittler­in zwischen Deutschlan­d und Frankreich: Anne Weber lebt seit Jahrzehnte­n in Paris und arbeitete zunächst als Übersetzer­in.
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Foto: dpa Die Bücher der letzten sechs Autoren, die die Jury zu den Finalisten des Jahres 2020 gekürt hat.

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