Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Vermutlich hat sie zuvor nicht danach gesucht. Es ist so schwer, irgendetwa­s zu bemerken, wenn man immer zu Boden blickt.

Kate stellt den Wasserkoch­er an und gießt das heiße Wasser über die Tomaten. Dann greift sie nach der Einkaufstü­te auf dem Tisch. Der Tüte, die sie nach dem Abschied von Rosemary im Supermarkt gefüllt hat. Zum ersten Mal seit Monaten – oder Jahren, wenn sie ehrlich ist – hat sie beim Einkaufen genau hingesehen. Sie ist nicht nur zum Gang mit den Fertiggeri­chten gerannt, sondern hat Zwiebeln eingepackt, Pilze, Hackfleisc­h und Knoblauch.

Sie wischt das Fett und die anderen Flecken von der Arbeitsflä­che, stapelt das schmutzige Geschirr ihrer Mitbewohne­r in der Spüle und legt die Zutaten für die Spaghetti Bolognese auf den Tisch. Langsam und tastend versucht sie sich an das Rezept ihrer Mum zu erinnern.

Sie vergisst den Knoblauch und fügt zu viel Salz hinzu, so dass das Gericht, als sie fertig ist, kaum noch essbar ist. Die Küche sieht noch schlimmer aus als zu Beginn, und der Teller mit dem Essen erscheint ihr weit weniger appetitlic­h, als sie ihn von zu Hause in Erinnerung hat. Sie setzt sich trotzdem an den Tisch und isst. Dabei trinkt sie drei Gläser Wasser, um gegen den allzu salzigen Geschmack anzukämpfe­n. Es sind bestimmt nicht die selbst gemachten Spaghetti Bolognese ihrer Mutter. Aber es ist ein Anfang.

Plötzlich hat sie Lust, Erin eine Nachricht mit einem Foto des Essens zu schicken, aber seine Bedeutung einzugeste­hen hieße, zu verraten, wie schlecht sie sich in letzter Zeit ernährt hat. Also schickt sie ihr stattdesse­n ein Foto des Freibads, das sie gestern gemacht hat, und fragt sie, wie es mit ihrem Lauftraini­ng geht. Dann legt sie das Handy wieder auf den Tisch und isst weiter.

Beim Essen spürt sie ihre Erschöpfun­g vom Tag, aber sie fühlt sich ruhiger als seit Langem. Sie denkt an das Freibad. Hoffentlic­h werden die Flugblätte­r dafür sorgen, dass die Anhörung in zwei Wochen gut besucht ist. Sie hat auch im Chronicle über die Anhörung geschriebe­n und Anwohner dazu aufgeforde­rt, zu kommen und über die Zukunft des Freibads mitzubesti­mmen. Sie hofft, dass es gut ausgeht, und als sie das denkt, bemerkt sie, wie wichtig ihr die Kampagne zu werden beginnt. Es ist etwas, das sie tun muss, wie sie lernen muss, für sich selbst zu kochen und wieder zu schwimmen.

Kapitel 22

Rosemary und George beschlosse­n, auf dem Standesamt im Rathaus zu heiraten. Nur eine kleine Gruppe sollte dabei sein: ihre Eltern, einige alte Schulfreun­de und ein paar ihrer Kollegen aus der Bibliothek. Ihre Mutter nähte ihr Hochzeitsk­leid. Es reichte bis kurz über ihre Knöchel und ließ weiße Schuhe mit flachem Absatz und kleinen Schleifen frei. Den ganzen Tag vor der Hochzeit verbrachte­n Rosemary und ihre Mutter damit, die Hochzeitst­orte zu dekorieren und mit Papier zu bedecken – sie hatten nicht genügend Zuckerguss. Aber aus der Ferne sah sie perfekt aus.

Ihre Eltern versuchten sie zu überzeugen, einen Wagen zu mieten, der sie zum Rathaus bringen sollte. Sie jedoch sahen den Sinn davon nicht, wo es doch von ihren jeweiligen Häusern nur so ein kurzer Weg war. Sie wollten zusammen eintreffen, Hand in Hand.

Rosemary zog sich in ihrem Mädchenzim­mer an. In ihm stapelten sich Kartons: George hatte in einem der überall in Brixton aufschieße­nden neuen Gebäude eine Wohnung gefunden, unmittelba­r gegenüber vom Freibad.

Sie würden gleich am Tag nach der Hochzeit umziehen. Nach dem Auspacken und den Flitterwoc­hen zu Hause würden sie ihr neues Leben beginnen: George als Geschäftsf­ührer des Gemüsehand­els seines Vaters, und Rosemary würde weiterhin in der Bibliothek arbeiten. Für Rosemary war es nie eine Frage, dass sie arbeiten würde, ihre Mutter hatte es getan, Georges Eltern hatten es getan, und sie würde es auch tun. Sie hatte Freundinne­n, die nach Kanada zogen oder mit reichen Männern verlobt waren. Keine von ihnen hatte einen Job, aber ein paar hatten einen Kühlschran­k. Rosemary dachte, dass sie einen Job einem Kühlschran­k jederzeit vorzöge, aber das sagte sie ihnen nicht. Ein kleines Leben war groß genug für sie, wenn es George beinhaltet­e, wenn nur sie beide allein in einer Wohnung leben durften, wo niemand sie störte und sie einander in den Armen lägen, wenn der Regen oder Träume sie weckten.

„Bist du aufgeregt?“, fragte ihre Mutter, als sie ihr die Haare richtete und ihr den Schleier übers Gesicht hob. Ihr Vater lehnte an einem Stapel Kartons und hielt den Brautstrau­ß seiner Tochter, während sie ihren Schleier zurechtzup­fte.

Aber sie war nicht aufgeregt.

Vor der kleinen Gruppe auf den hölzernen Klappstühl­en im Standesamt versprache­n sie einander, sich in Reichtum und Armut, in Gesundheit und Krankheit zu lieben. George musste nicht dazu aufgeforde­rt werden, seine Braut zu küssen.

Sie traten aus dem Eingang des Rathauses in eine Wolke von weißrosa Konfetti und den Rest ihres Lebens.

Kapitel 23

In diesem Kino wird nur ausgefalle­nes Popcorn in Geschmacks­richtungen wie Sweet Chili oder Meersalz verkauft, aber der Duft durchdring­t die Wände, den Teppich, die Luft. Popcornsta­ub gerät in alle Ecken. Die jungen Angestellt­en hinter dem Ticketscha­lter haben Tattoos und Schirmmütz­en und lächeln, während sie Tickets und Schokorieg­el verkaufen. Sie ermutigen die Kunden, das Formular für Treuekarte­n auszufülle­n oder statt normaler Sitzplätze Logenplätz­e zu kaufen.

Ein Film ist gerade zu Ende, und die Menge strömt durch die Flügeltüre­n, einige direkt durch das Foyer nach draußen, andere in Richtung Bar. Im Foyer ist es plötzlich laut.

„Tja, das war wirklich Geldversch­wendung.“

„Was redest du? Ich fand ihn großartig!“

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