„Alles steht und fällt mit den Leuten“
Generalstabschef Steve Thull über die immer komplexeren Herausforderungen für die luxemburgische Armee
Seit der offiziellen Amtsübergabe am 29. September auf dem Herrenberg ist Steve Thull der Nachfolger von Alain Duschène auf dem Posten des Armeechefs. Zuvor war Thull, verheirateter Vater von drei Kindern, unter anderem ab 2015 luxemburgischer Vertreter im „Consultation, Command and Control Board“der NATO. Im Interview spricht er über den Personalmangel und die neue Rekrutierungspolitik, den Observationssatelliten LUXEOSys sowie Spannungen innerhalb der Armee.
Steve Thull, Sie sind seit Kurzem Generalstabschef. Sie haben sich gegen mehrere Mitbewerber durchgesetzt. Wie muss man sich diese Prozedur konkret vorstellen?
Es war das erste Mal, dass der Prozess so abgelaufen ist. Es wurde eine Kandidatur ausgeschrieben, wo man sich für den Posten des Generalstabschefs bewerben konnte, das war die erste Etappe. Die zweite Etappe bestand darin, ein „Mémoire stratégique“auszuarbeiten, wo man seine Vision zu verschiedenen Punkten darlegen musste. Anschließend wurden in einer dritten Etappe Interviews mit den Kandidaten geführt und anschließend eine Entscheidung getroffen.
Sie sagen, dass es zum ersten Mal so abgelaufen ist. Wie war es denn vorher, ist der Ranghöchste nachgerückt?
Ja, vorher wurde der Ranghöchste genommen. Allerdings unter der Voraussetzung, dass er noch eine „Lebensdauer“von mindestens zwei Jahren in der Armee hatte, denn eine Amtszeit von einem Jahr wäre dann doch zu kurz gewesen.
In welchem Zustand befindet sich die luxemburgische Armee in Ihren Augen grundsätzlich?
Wir befinden uns in einer Zeit, in der wir so viele Aufgaben haben wie noch nie zuvor. Das liegt daran, dass wir so viele Projekte haben, die wiederum ein Resultat unserer NATO-Verpflichtungen sind. Vorher wurde uns ja immer vorgeworfen, dass wir nicht genug investieren würden. Unsere Leute waren es früher gewohnt, sich einer einzigen Sache zu widmen, heute müssen sie sich in mehrere Bereiche einarbeiten.
Das verlangt den ganzen Mann und die ganze Frau. An und für sich ist der Mensch ein Gewohnheitstier, das nach Stabilität strebt und die Dinge, die es gut beherrscht, immer weiter machen möchte. Unsere Welt ist aufgrund der Digitalisierung und der geopolitischen Situation jedoch sehr schnelllebig geworden, weswegen wir uns ständig transformieren müssen. Ich möchte das Wort „anpassen“nicht benutzen, weil es passiv ist, wir müssen die Dinge vielmehr im Vorfeld erkennen und antizipieren.
Die Armee hat so viele Aufgaben wie nie zuvor, zeitgleich ist der Personalbestand seit Längerem ziemlich dünn. Hat es in den vergangen Jahren in diesem Bereich Fortschritte gegeben?
Hier spielt das Armeegesetz eine wichtige Rolle. Im Schnitt bekommen wir alle zehn Jahre ein neues Gesetz. Das rezenteste wurde im Dezember 2007 verabschiedet und das in einer Zeit, in der sich die Dinge immer schneller verändern. In dem neuen Text befinden sich ganz neue Ansätze in Bezug auf die Rekrutierung. Das Gesetz wird es uns erlauben, Personal für alle Karrieren, von D bis rauf zur A1, für die ein Masterabschluss eine Voraussetzung ist, einzustellen. Heute haben wir nur die Karriere D, die Korporale, und die Karriere C, die Unteroffiziere. In der B-Karriere haben wir gar nichts. In der A-Karriere, die sich in A1 und A2 aufteilt, fehlt uns die Gruppe A2, die ein Bachelordiplom verlangt. Diese Lücken sollen nun geschlossen werden.
Es fehlt nicht nur an Soldaten, sondern auch an Offizieren. Ihr Vorgänger hatte deswegen angekündigt, verstärkt in Universitäten rekrutieren zu wollen. Wurde das umgesetzt?
Es gibt die direkte und die indirekte Rekrutierung. Bei der indirekten Rekrutierung kommt jemand
Steve Thull hat die Militärakademie in Brüssel absolviert. mit einer Première, der dann während vier bis fünf Jahren in einer Militärakademie ausgebildet wird und schlussendlich einen Masterabschluss hat. Das ist sehr aufwendig, weil sie fünf Jahre in jemanden investieren ohne zu wissen, ob er am Ende sein Diplom erhält. Bei der direkten Rekrutierung werden Masterabsolventen angeworben, die eine einjährige generelle militärische Ausbildung und eine Spezifizierung in einer bestimmten Waffengattung erhalten. Das haben wir gemacht, aber bislang mit eher mäßigem Erfolg.
Heißt das, dass man künftig von der direkten Rekrutierung Abstand nimmt?
Nein, wir müssen vermehrt auf die Menschen zugehen und erklären, welche Perspektiven sie in der Armee haben. Es ist ein System, das es uns erlaubt, relativ schnell Offiziere anzuwerben. Denn man muss wissen, dass auch die Absolventen der Militärakademie noch ein Jahr in einer spezifischen Waffengattung ausgebildet werden. Das heißt, wir sehen sie fünf bis sechs Jahre, früher dauerte die Ausbildung an der Militärakademie fünf heute vier Jahre, nicht wieder. Das Problem bei der direkten Rekrutierung ist, dass man mit 24 Jahren nicht mehr so flexibel wie mit 19 ist. Wenn Sie bislang nur Ihre Bücher kannten und dann plötzlich an Orte geschickt werden, wo es kalt und nass ist, sind Sie vielleicht weniger bereit, das über sich ergehen zu lassen.
Mehr Frauen würden uns gut zu Gesicht stehen.
Das ist interessant, weil die Polizei mit ähnlichen Problemen bei der Rekrutierung konfrontiert ist und im Zuge einer neuen Kampagne auch bereits Berufstätige anwerben will. Für Sie ist es also eher unrealistisch, dass man einen 35-Jährigen einstellt, der zuvor zehn Jahre im Büro gearbeitet hat?
Das wird in verschiedenen Fällen absolut möglich sein. Bei uns kommen die Bereiche Physis und Leadership hinzu. Wir verschließen uns keiner Möglichkeit. Ich kann mir Quereinsteiger vor allem in spezialisierten und zivilen Bereichen vorstellen. Im militärischen Bereich wird es schwieriger, weil Zivilisten oft nicht das nötige Verständnis für das militärische Umfeld mitbringen, um Entscheidungen zu treffen. Wenn Sie aber einen 45-Jährigen einstellen, sitzt der automatisch in so einer Position. Wenn er das Ökosystem Militär nicht kennt, kann er nicht sofort sagen, wohin es gehen soll. Das ist auch in anderen Streitkräften nicht der Fall, andernfalls
richtet, deswegen werden Photovoltaikanlagen darauf installiert. Eine Studie hat gezeigt, dass wir dann mehr Energie produzieren als verbrauchen. Dann stellt sich die Frage, ob man die Energie einspeist oder speichert. Wir gehen wahrscheinlich auf den Weg, die Energie in Batterien zu speichern.
Im vergangenen Jahr sind zwei Soldaten bei einem tragischen Unfall im Munitionslager Waldhof ums Leben gekommen. Wie wurden daraufhin die Sicherheitsmaßnahmen verändert?
Beim Waldhof handelt es sich um eine alte Infrastruktur, die wie der Herrenberg einer kompletten Renovierung bedarf. Es sind aber noch nicht alle Studien abgeschlossen. Die Situation ist ziemlich komplex, weil das Munitionslager in einer Wasserschutzzone und einer Natura-2000-Zone liegt. Da können Sie nichts ohne die entsprechenden Genehmigungen tun. Wegen der Brandgefahr im Wald müsste man eigentlich Bäume in einem gewissen Radius rund um das Areal fällen, um zu verhindern, dass sie im Brandfall auf den Sicherheitszaun fallen. Es gibt aber unzählige Regeln, die sich teilweise gegenseitig widersprechen. Das ist ein Problem. Was das Personal betrifft, haben wir unsere Mannschaften mithilfe belgischer Kollegen verstärkt. Wir sind gerade dabei zu prüfen, wie viele Leute künftig benötigt werden.
Dieses Jahr war die Armee stark in den Kampf gegen das Corona-Virus involviert. Welches Fazit ziehen Sie?
Wir helfen auch jetzt noch, indem wir Leute für das Tracing abstellen. Das Fazit ist schlussendlich sehr gut. Neben seinen negativen Aspekten hat Corona es uns ermöglicht, der Bevölkerung unsere Arbeit, die wir sonst im Ausland und im Verborgenen leisten, konkret zu zeigen. Es wurde Hilfe gebraucht und die Armee hat sie geliefert. Die Krise hat den Menschen die Armee ein Stück weit näher gebracht.
Die Corona-Krise hat den Menschen die Armee ein Stück weit näher gebracht.
Der Observationssatellit LUXEOSys stand in den vergangenen Monaten im Fokus der Öffentlichkeit. Es wurde bekannt, dass die Défense die Armee im Vorfeld nicht in das Projekt einbezogen hat. Eigentlich ein unhaltbarer Vorgang, oder?
Jetzt bringen Sie mich in eine Zwickmühle. Ich will das nicht bewerten, sondern nach vorne schauen. Für mich ist das LUXEOSys-Programm, wenn es denn in der Chamber die Zustimmung erhält, ein sehr gutes Programm. Als Armee sollten wir von Beginn an mit der Défense zusammenarbeiten, uns das nötige Fachwissen aneignen und nach und nach verschiedene Posten besetzen. Wir müssen sicherlich einen Teil outsourcen, aber der Anspruch ist, dass wir ab einem bestimmten Zeitpunkt die Steuerung übernehmen.
Ist es denn mit Blick auf die benötigten rund 20 Mann wirklich realistisch, dass die luxemburgische Armee den Satelliten mittelfristig selbst steuern kann? Falls ja, von welchem Zeitraum reden wir hier?
Ich weiß momentan nicht, wie viele Leute ganz genau benötigt werden und welche Qualifikation sie brauchen. Vielleicht macht es auch überhaupt keinen Sinn, alle Posten mit Militärs zu besetzen. Wir werden sicherlich nicht von heute auf morgen ausreichend Personal anwerben. Als Vorbild sollte uns das Projekt des Kommunikationssatelliten GovSat dienen, das 2012 angefangen hat und heute komplett von uns betrieben wird; natürlich mit der Hilfe von Subunternehmen, aber die Steuerung gewährleisten wir selbst. Das haben wir in acht Jahren geschafft. Wenn man weiß, dass die Satellitenobservation komplexer als die Kommunikation ist, wir aber gleichzeitig bereits über ein gewisses Know-how verfügen, müsste man innerhalb von sechs Jahren etwas bewegen können.
Ein anderes Dossier, das für Negativschlagzeilen gesorgt hat, war der Streit zwischen der Armeeführung und Christian Schleck, dem Präsidenten der Armeegewerkschaft SPAL. Gibt es mit Ihnen die Chance auf eine Annäherung?
Das würde ich mir wünschen, ich habe bereits mit Herrn
Schleck gesprochen. Auch hier müssen wir nach vorne schauen und dürfen uns nicht zerstreiten. Meine Tür steht offen und es ist bereits ein Treffen mit dem SPAL vereinbart, um herauszufinden, wo der Schuh drückt. Es gibt bestimmt Verbesserungsbedarf, jetzt müssen wir Lösungen für die Probleme finden.
Mit 53 Jahren sind Sie ein vergleichsweise junger Generalstabschef. Besteht die Möglichkeit, dass Sie länger als Ihre Vorgänger im Amt bleiben, die oft nach spätestens drei Jahren in den Ruhestand getreten sind?
Ich würde mir wünschen, dass ich den Job mit der Unterstützung der Mitarbeiter länger schaffe. Wie vorhin gesagt, braucht man mindestens sechs, wenn nicht sogar acht Jahre, um ein Projekt auf die Schiene zu bringen, was mein Anspruch ist. Schlussendlich sind die Menschen der Motor des Ganzen. Alles steht und fällt mit den Leuten, die motiviert und bereit sein müssen, sich reinzuknien. Dies eben vor dem Hintergrund einer sich ständig verändernden Welt. Es geht darum zu vermitteln, dass der Chef nicht dauernd die Richtung ändert, sondern dass wir uns transformieren, um auch in Zukunft relevant zu bleiben. Hier müssen wir durch eine entsprechende Kommunikation das Vertrauen in die Hierarchie festigen.