Wie gelähmt
Die CSV steckt in einer ernsthaften Krise. Seit Jean-Claude Juncker weg ist, weiß die Partei nicht, wer sie ist, wofür sie steht und wohin sie will. Sie weiß nur, dass sie zurück in die Regierung will. Bloß: Wer soll sie dorthin führen und warum sollte man sie wählen? Diese Fragen sind völlig offen – und werden wohl auch nach dem heutigen digitalen Kongress unbeantwortet bleiben.
Fraktionschefin Martine Hansen und Parteipräsident Frank Engel ringen um die Führung in der Partei und haben unterschiedliche Auffassungen, in welche Richtung die Partei steuern soll. Genau genommen weiß Hansen nicht, wohin die Partei steuern soll. Sie will die CSV in der Mitte verankern, um von dort alle Wählerschichten zu erreichen. Das hat die Partei bereits 2018 versucht, ohne Erfolg, wie wir wissen. Hansen – so hat es zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls den Anschein – macht weiter wie bisher, und mit ihr ein Großteil der Fraktion, darunter frühere Minister, Parteiund Fraktionsvorsitzende, die darauf warten und hoffen, dass sich das Blatt 2023 wie durch Zauberhand wendet und der böse Traum nach zehn Jahren endlich ein Ende nimmt.
Frank Engel will neuen Wind in die Partei bringen, das soziale Profil der CSV schärfen, sie links der Mitte positionieren. Unklar ist, wie viele andere Parteimitglieder das auch wollen und ob es Engel gelingt, die Truppen hinter sich zu bringen. Was ihm dabei im Weg steht, ist sein Wesen. Engel gilt als Einzelgänger, rechthaberisch und beratungsresistent. Er polarisiert, provoziert und bringt mit seinem Ego andere Egos gegen sich auf. Engel verkörpert einen Juncker-ähnlichen Politikstil, der auf dem Grundsatz basiert: Alle mir nach. Ein Politikstil, der ohne politisches Mandat aber offensichtlich nicht funktioniert.
Engel ist andererseits mit einem scharfen Verstand und einer rhetorischen Stärke ausgestattet, die ihn befähigen, führende Politiker anderer Parteien vor sich her zu treiben. Mit seinem nicht mit der Partei abgesprochenen Vorstoß in Sachen Vermögens- und Erbschaftssteuer ist es ihm immerhin gelungen, eine Steuergerechtigkeitsdebatte loszutreten, die ihrerseits die Regierungsparteien gezwungen hat, ihre Uneinigkeit in Steuerfragen einzugestehen.
In der CSV tobt ein Richtungsstreit mit ungewissem Ausgang. Die Partei sollte die Auseinandersetzung nicht scheuen. Sie sollte die von Frank Engel losgetretene inhaltliche Debatte weiterführen, unabhängig von Personen. Die Corona-Krise mit ihren Auswirkungen auf die Staatsfinanzen und die Wirtschaft, die Wohnungskrise, die Klimakrise, das Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich bieten reichlich Potenzial zur Profilschärfung.
Die parteiinterne Debatte (ohne Tabu) über eine neue Politik, die den krisenbedingten Gegebenheiten Rechnung trägt, muss erlaubt sein – vorherige Absprache hin oder her. Sie ist sogar dringend notwendig. Dazu müssen die Parteimitglieder aber die Auseinandersetzung mit der von Frank Engel gewählten Form überwinden. Und sie müssen ihre in einzelnen Fällen nicht unbegründete Abneigung gegen ihren Präsidenten überwinden, und sich mit Blick auf die Wahlen 2023 fragen, welchen Nutzen die CSV aus der nun angestoßenen Debatte ziehen kann.
Die aktuellen Krisen bieten reichlich Potenzial zur Profilschärfung.
Kontakt: michele.gantenbein@wort.lu