Wie Treibgut im Häusermeer
Der Weg von den Inseln führt viele Geflüchtete aus Moria ins Elend auf die Plätze und Straßen der griechischen Hauptstadt Athen
Die Stadtverwaltung hat die Bänke am Viktoriaplatz im Zentrum Athens entfernen lassen. Niemand soll auf ihnen Platz nehmen. Den Menschen bleibt nichts anderes übrig, als sich auf die Betonplatten und in die Baumbeete zu setzen. Familien breiten Decken aus. Mütter legen ihre Kinder darauf schlafen. Männer liegen Schulter an Schulter auf dem Boden. Sie starren vor sich hin, als wäre die Zeit für sie stehen geblieben. Was die in Athen Gestrandeten aus dem Lager Moria auf der Insel Lesbos mitnehmen konnten, stapelt sich in Rucksäcken und Tüten um sie herum.
Sobald sich jemand nähert, der Helfer sein könnte, bildet sich eine Traube von Menschen. Es sammeln sich Fußlahme, Gebeugte,
UNHCR nach einem positiven Asylbescheid innerhalb von 30 Tagen ihre Geldkarte sperrt und sie als anerkannte Asylbewerber kein Recht mehr auf einen Platz in einer Unterkunft haben. Die griechische Regierung entschied die Gesetzesänderung im Frühjahr. Anerkannte Asylbewerber sollten sich künftig wie jeder griechische Bürger selbst um Unterhalt und Obdach kümmern, verkündete im Mai der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis. Nur sprechen viele wie die Nowrozis nicht einmal Griechisch.
Sprachbarriere
Die Nowrozis erzählen, dass sie in sechs Monaten im Chaos des überfüllten und vor einem Monat abgebrannten Lagers Moria kein Wort der fremden Sprache gelernt haben. Und niemand scheint ihnen auf ihrer Sprache Farsi vor der Abreise in Lesbos einen Rat gegeben zu haben, wie sie in Athen ein Obdach finden könnten. Sie hätten schließlich von anderen Afghanen auf dem Viktoriaplatz von einem von der EU finanzierten Programm für anerkannte Flüchtlinge erfahren, erzählt Amena Nowrozi. Es nennt sich Helios. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet dabei anerkannten Geflüchteten Integrations- und Sprachkurse an. Sie erhalten Unterstützung bei der Suche nach Wohnung und Arbeit.
Helios klang für die Afghanin und ihren Mann zunächst wie der Schlüssel zu einer besseren Zukunft. Aber wie der positive Asylbescheid auf Moria hatte auch diese Hoffnung einen Haken. Anerkannte Flüchtlinge benötigen zunächst eine Steuernummer und ein
Bankkonto, um vom Helios-Programm Hilfe zu erhalten. Beides können in Griechenland nur Menschen beantragen, die eine feste Wohnung haben. Flüchtlinge benötigen also derzeit eine Wohnung, um von Helios Hilfe bei der Wohnungssuche zu erhalten. Die Nowrozis hatten das Glück, dass ein Afghane sie vorübergehend aufnahm. Der Mann erlaubte ihnen, seine Adresse zu nutzen für den Antrag auf eine Steuernummer. Diese Hürde schien genommen. Doch wie sollten die Nowrozis die aus dem Internet heruntergeladenen griechischen Formulare für die Steuernummer ohne Hilfe ausfüllen? Amena Nowrozi entschied sich deshalb, am 2. September ein Risiko einzugehen. Sie setzte sich in einen Bus, um einen anderen Afghanen zu treffen, der bereits Griechisch spricht und helfen wollte. Ihr Plan ging schief.
Die Afghanin versteht nur die arabischen Ziffern, nicht die griechischen Buchstaben auf ihrem Bußgeldbescheid. Die Zahl „72“sucht sie nun in ihren Alpträumen heim. Sie vervielfältigt sich zu astronomischen Summen. „Ich habe von einem Mann gehört, der vor einigen Monaten ein Bußgeld nicht zurückgezahlt hat und nun der Stadt Athen 7 000 Euro schuldet“, sagt sie. Noch einmal ein Bußgeld riskieren, um mit dem Übersetzer die für die Steuernummer nötigen Formalitäten zu erfüllen, traue sie sich nicht.
Zoe Kokalou von der Hilfsorganisation Arsis vermutet, dass Menschen wie Amena Nowrozi in den kommenden Monaten von den Straßen und Plätzen Athens verschwinden werden. Allerdings dürften die wenigsten ihren Weg in das Helios-Progamm
und damit in ein Leben unter eigenem Dach finden, vermutet sie. Kokalou genehmigt sich einen Schokoladenfrappé in einem Straßencafé unweit des Viktoriaplatzes. Etwas zur Aufmunterung muss sich die Helferin in jenen Wochen nach dem Brand im Lager Moria Anfang September wohl gönnen.
Ihre Organisation mietet mit Geld aus einem EU-Budget für rund 2 000 Geflüchtete Wohnungen in ganz Griechenland an. Nun sollen viele ihre Klienten die Wohnungen räumen. Kokalou beschreibt, warum seit Juli immer mehr Flüchtlinge wie Treibgut von den griechischen Inseln in den Hafen von Piräus gespült wurden und nun ratlos durch das Häusermeer der Hauptstadt ziehen. Die griechischen Behörden hätten zum einen seit dem Beginn der Corona-Pandemie, in Moria und anderen Lagern auf den griechischen Inseln im Eilverfahren Asyl gewährt, erklärt Kokalou. Moria und andere Camps seien im März 2020 so überfüllt gewesen, dass sie virologischen Zeitbomben glichen, meint die Helferin. „So viele wie möglich sollten weg aus den Lagern“, meint die Helferin.
Gleichzeitig erließ die Regierung des Konservativen Kyriakos Mitsotakis jenes Gesetz, das nach 30 Tagen die finanzielle Unterstützung von laut UNHCR 11 237 anerkannten Asylbewerbern beendet und Flüchtlinge dazu verpflichtet, ihre mit EU-Geldern finanzierten Unterkünfte zu verlassen. So rollte im Sommer eine weitere Welle obdachloser Geflüchteter auf Athen zu. „Es stimmt zwar, dass bisher kein Geflüchteter zwangsgeräumt wurde. Aber viele verlassen ihre Wohnungen freiwillig, solange noch ein Betrag auf ihrer Geldkarte war. So konnten sie sich wenigstens noch Kleidung und Essen kaufen, die sie auf der Straße benötigen“,
Wir hörten von den anderen aus Moria, dass Afghanen in Athen am Viktoriaplatz schlafen. Amena Nowrozi
sagt Kokalou. Aus der Obdachlosigkeit heraus sei es angesichts der behördlichen Hürden nahezu unmöglich, in das Helios-Programm für anerkannte Asylbewerber zu kommen.
Nach dem Brand im Lager Moria bildet sich womöglich gerade eine dritte Welle von Geflüchteten, die sich auf dem griechischen Festland in der Obdachlosigkeit wiederfinden könnte. Die griechischen Behörden wollen 2 500 Geflüchtete von Lesbos auf das Festland verlegen. Wie bei jenen, die nach dem Ausbruch der CoronaPandemie aufs Festland gebracht worden sind, handelt es sich wieder um Menschen mit einem positiv beschiedenen Asylantrag oder als besonders gefährdet eingestufte Gruppen wie Schwangere oder alleinstehende Frauen. Unklar ist derzeit, wie viele der von Lesbos auf das Festland gebrachten Migranten in andere europäische Länder ausgeflogen werden. Die deutsche Regierung hatte im September angekündigt, 1 553 anerkannte Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen. 139 unbegleitete Minderjährige sowie kranke Flüchtlingskinder und ihre Angehörigen landeten Ende September mit einer Maschine am Flughafen Hannover.
Angst vor neuen Lagern
Doch Helfer wie Zoe Kokalou haben Zweifel, ob Griechenland die Geflüchteten wirklich ziehen las